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Vom Geistesblitz getroffen

Es erwarten Sie: eine Wachskerze, Streichhölzer, eine mit Reißzwecken gefüllte Schachtel und die Aufgabe, die Kerze an der Wand zu befestigen. Der Analytiker in Ihnen erkennt sofort das Offensichtliche, nämlich das Wachs zu erweichen und die Kerze anzukleben – oder aber diese mit Reißzwecken festzupinnen. Beide Versuche scheitern, denn die Kerze ist dafür zu schwer und das Wachs entweder zu spröde (bei tiefen Temperaturen) oder zu weich (im warmen Zustand). Dann kommt Ihnen plötzlich eine Idee: Sie pinnen die Reißzweckenschachtel an die Wand und kleben die Kerze mit flüssigem Wachs darauf – mit Erfolg!

Dieser Versuchsaufbau ist nur einer von vielen, mit dem Forscher dem Phänomen der Einsicht auf den Grund gehen. Weltweit führend auf diesem Gebiet sind die beiden Autoren des vorliegenden Buchs. John Kounios arbeitet als Professor für Psychologie an der Drexel University in Philadelphia, Mark Beeman als Psychologieprofessor an der Northwestern University in Illinois. Sie definieren Einsicht als eine ausschließlich menschliche Art zu denken, die Lösungen für schwierige Probleme wie aus dem Nichts ins Bewusstsein katapultiert. Das Ergebnis ist ein Aha-Erlebnis, wie es vermutlich jeder kennt.

Den Wald vor Bäumen nicht sehen

Ihren großen Auftritt bekomme die Einsicht, wenn der analytische Teil der Persönlichkeit das Problem ergebnislos gedreht, gewendet und von allen Seiten betrachtet habe, schreiben Kounios und Beeman. Analytisches Grübeln fokussiere ganz auf das Problem selbst – mit der Gefahr, sich festzubeißen. Beim einsichtsvollen Denken dagegen sei die Aufmerksamkeitsspanne erweitert. Dies erlaube einen Fluss freier Assoziationen und biete damit die Möglichkeit, alternative und auch abwegige Lösungswege in Betracht zu ziehen.

So erging es etwa Andrew Stanton von den Pixar Animation Studios, die Computeranimationen für Filme produzieren. Als er während eines Baseballspiels das Fernglas versehentlich verkehrt herum hielt, "starrten" ihn die Objektivlinsen an. Da wurde ihm schlagartig klar, wie sein neuer Filmcharakter aussehen sollte: Das Gesicht des Roboters "Wall-E" war ihm erschienen.

Bewusstsein als Fernseher

Diese und viele weitere Beispiele im Buch veranschaulichen, in welch unerwarteten Situationen ein Geistesblitz einschlagen kann. Zudem berichten Kounios und Beeman darüber, wie sie das psychologische Konstrukt in ihren Studien empirisch erfasst haben. Wiederholt fordern sie ihre Leser dazu auf, zunächst selbst über die Lösung von Versuchsaufgaben nachzudenken. In ihren anschließenden Erklärungen bedienen sie sich eingängiger Bilder: Das Bewusstsein wird zum Fernseher und der cinguläre Kortex zu einer Lehrerin, die auch zurückhaltende Schüler zu Wort kommen lässt. Dieses Areal an der Stirnseite des Gehirns sei ein Teil jenes neuronalen Netzwerks, das uns Aha-Erlebnisse beschere. Der Funke der Einsicht entspringe aber dem rechten Schläfenlappen, zumindest nach derzeitiger Befundlage.

Mit ihrem Buch haben die beiden Psychologen ein verständliches, lehrreiches und unterhaltsames Werk für alle Interessierten geschaffen. Neben vielen Hintergrundinformationen erhalten die Leser praktische Tipps, wie sie ihre Denkleistungen optimieren können. Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse raten Kounios und Beeman unter anderem zu guter Stimmung, um den Blick zu weiten, zu ausreichend Schlaf, um nutzlose Gedanken loszuwerden, und zu Tapetenwechsel, um sich von gewohnten Perspektiven zu lösen. Manchmal genüge es bereits, einfach einmal die Augen zu schließen. Zugleich dämpfen die Autoren allzu hoch gesteckte Erwartungen: Unsere Gesellschaft verlange immer mehr Kreativität und Innovation in immer kürzerer Zeit. Ein an Einsichten reifes Denken müsse hingegen langsam reifen.

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