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Buchkritik zu »Das autobiographische Gedächtnis«

Mein Vater erzählte oft vom Krieg. Obwohl ich ein Kind war, verstand ich, dass er das tat, weil er froh war, einer großen Gefahr entronnen zu sein. Als mein erster Italienurlaub zu Ende ging, nahm ich mir vor, mich mein Leben lang an ihn zu erinnern. Mein Gedächtnis stellte ich mir vor wie unseren Dachboden: eine Rumpelkammer voll interessanter Lebensspuren.

Wie dieses private Oberstübchen allmählich in jedem von uns reift und sich füllt, untersuchen der Bielefelder Neuropsychologe Hans Markowitsch und der Sozialpsychologe Harald Welzer vom Essener Kulturwissenschaftlichen Institut seit mehreren Jahren mit ihrem interdisziplinären Forschungsprojekt "Erinnerung und Gedächtnis".

Das autobiografische Gedächtnis ist Dreh- und Angelpunkt unseres Menschseins. Es ermöglicht uns, eine selbstbewusste Persönlichkeit auszubilden, die Goethe als "höchstes Glück der Erdenkinder" pries. Das Wesen dieses Schatzes erschließt sich aber erst, wenn die hirnphysiologische Betrachtung des einzelnen Gehirns um die soziale Dimension erweitert wird: Der kindliche Kopf wächst in Gesellschaft heran.

Mit ihrem "biosozialen" Ansatz wollen die Autoren sich von vornherein über die leidige Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften hinwegsetzen. Wer erst das fertig ausgereifte erwachsene Gehirn untersucht, argumentieren sie, der kommt zu spät und landet vor der notorischen Erklärungslücke – vor dem Problem, wie aus hirnphysiologischen Daten der sinnliche Reichtum unserer Erfahrungen und Erinnerungen hervorgehen soll. Wer hingegen der Entwicklung des Menschenhirns vom Fötus bis zur Adoleszenz nachspürt, erforscht einen biologischen Prozess in seinem sozialen, kulturellen, historischen Kontext.

Überspitzt gesagt: Ob eine einzelne Synapse sprießt und eine Verbindung zu anderen Neuronen schafft oder nicht, hängt beim Menschen mit überindividuellen Faktoren zusammen, die allein hirnphysiologisch gar nicht zu fassen sind. Schon der Fötus lebt mit – sogar in – einem anderen Organismus, und das menschliche Neugeborene ist von der Mutter-Kind-Symbiose abhängiger als jedes Tierbaby. Mit neun Monaten erschließt sich dem Kind ein gefühlsbetonter sozialer Raum aus anderen Personen und Objekten, der von Anfang an auch sprachliche Kommunikation umfasst. Von einer individuell vorprogrammierten Sprachkompetenz (Noam Chomsky) oder einem angeborenen Sprachinstinkt (Steven Pinker) halten Markowitsch und Welzer wenig, sondern meinen: "Die soziale Praxis stellt also selbst eine Struktur bereit, in der das Erlernen einer Symbolsprache organisiert werden kann."

Dieser biosoziale Ansatz greift eine Tradition auf, die bis zur so genannten kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie um Lew Wygotski zurückreicht und das Individuum von Anfang an als soziales Wesen begreift. Jetzt wird diese Tradition mit aktuellen Befunden der Hirnforschung angereichert und daraus eine überzeugende Zusammenschau entwickelt.

Im Detail mag die Forschung noch manches in diesem Gesamtbild zurechtrücken. So scheinen die Autoren in ihrem Eifer, das spezifisch Menschliche am Ursprung des autobiografischen Gedächtnisses herauszuarbeiten, doch die Kluft zwischen Mensch und Tier zu überzeichnen. Ihre Behauptung, Tiere seien Solipsisten und unfähig zum Lernen durch Imitieren, ist bereits heute widerlegt: Unter Menschenaffen gibt es regional unterschiedliche "Kulturen" primitiven Werkzeuggebrauchs. Auch bei niedrigeren Tieren treten durchaus belehrende Mutter-Kind-Interaktionen auf.

Von dort bis zu einem Wesen, das auf sein vergangenes Leben zurückzuschauen und seinen Nachkommen davon zu erzählen vermag, ist freilich noch ein weiter Weg. Davon berichtet dieses Buch, indem es mutig die Grenzen der Disziplinen überschreitet.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 11/2006

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