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Buchkritik zu »Das Darwin-Virus«

Linné, Lamarck, Darwin – wohl alle bekannten Evolutionsbiologen hatten mit Ablehnung und Widerstand zu kämpfen, als sie mit ihren Theorien über die Vererbungslehre alles bisher Geglaubte in Frage stellten. So ergeht es auch den Hauptfiguren in Greg Bears Wissenschaftsroman. Die Molekularbiologin Kaye Lang und der Archäologe Mitch Rafelson machen unglaubliche Entdeckungen, aus denen sie nur den Schluss ziehen können, dass die Evolutionsgeschichte des Menschen umgestoßen und völlig neu geschrieben werden muss. Nicht durch zufällige Mutationen, wie bisher angenommen, sondern durch zielgerichtete Veränderungen im Erbgut habe sich der Mensch weiterentwickelt und dadurch besser an seine Umgebung angepasst. Zu Beginn des Romans stehen drei scheinbar unabhängige Vorfälle: Unweit der georgischen Hauptstadt Tiflis wird ein Massengrab entdeckt, in dem sich etwa sechzig Frauen, Männer und Kinder finden. Alle weiblichen Opfer waren schwanger, als sie starben. Es stellt sich heraus, dass die Ermordung der Menschen nicht in grauer Vorzeit stattfand, sondern lediglich fünf Jahre zurückliegt. Die georgischen Behörden tun alles, um diese Entdeckung zu vertuschen. Zur selben Zeit werden in den österreichischen Alpen in einer Höhle drei Mumien gefunden: ein Neandertaler-Paar mit einem Neugeborenen an seiner Seite. Doch das Kind weist überraschenderweise Merkmale eines modernen Homo sapiens sapiens auf. Unterdessen verbreitet sich weltweit eine Viruskrankheit, die so genannte Herodes-Grippe, von der nur schwangere Frauen betroffen sind. Der Krankheitserreger verursacht Fehlgeburten, wobei die abgestoßenen Feten sehr starke Fehlbildungen aufweisen. Außerdem wird immer wieder berichtet, dass diese Frauen erneut schwanger werden, auch ohne sexuellen Kontakt. Besteht irgendein Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen? Zunächst scheint dies nicht der Fall zu sein. Doch Kaye Lang, Spezialistin für Retroviren, sieht eine Verbindung: Sie entdeckt virale Elemente namens SHEVA, die seit Millionen von Jahren ins menschliche Erbgut integriert sind, offenbar auf unbekannte Weise aktiviert werden und vermutlich für die geheimnisvolle Grippe verantwortlich sind. SHEVA kann sowohl bei den urzeitlichen Neandertaler-Leichen und ihrem Säugling als auch bei den in Georgien gefundenen Toten nachgewiesen werden. Lang glaubt, dass dieses Retrovirus nicht nur für den Ausbruch der neuartigen Influenza verantwortlich ist, sondern vielmehr eine Art Evolution durch eine plötzliche Weiterentwicklung des Menschen bewirkt. Mitch Rafelson, der die Höhlenleichen gefunden hat, istebenfalls ihrer Ansicht. Dagegen sieht Christopher Dicken, Virologe von den National Centers for Infectious Diseases in Atlanta, durch die Epidemie den Fortbestand der Menschheit bedroht. Zur Bekämpfung des Virus leitet er drastische Maßnahmen wie Zwangsabtreibungen bei Schwangeren, die SHEVA tragen, ein. Im Rennen gegen die Zeit versuchen beide Parteien, das Rätsel zu lösen, herauszufinden, ob SHEVA nur ein gefährlicher und mysteriöser Krankheitserreger oder aber ein Motor für die Entwicklung einer neuen menschlichen Art und damit für die sprunghafte Evolution ist. "Das Darwin-Virus" ist ein gut recherchierter Wissenschaftsroman um ein faszinierendes, fesselndes Thema, der zeigt, dass wissenschaftliche Thesen häufig keine unumstößlichen Gesetze darstellen. Der Leser erhält Einblick in die alltägliche Welt der Biowissenschaftler und deren Probleme, neue und unmöglich erscheinende Entdeckungen in der Öffentlichkeit glaubhaft zu vertreten. Gleichzeitig übt der Autor unterschwellig Kritik an der heutigen Welt voller Schnelligkeit und Wachstum, in der der Mensch oft überfordert ist. Er zeigt auf, dass der Lauf der Zeit, selbst wenn jedes noch so kleine Detail des Lebens erforscht zu sein scheint, durch den Menschen nicht aufgehalten werden kann. Doch trotz der spannenden Idee und des durchaus gelungenen fesselnden Anfangs krankt der Roman an einigen Längen im Mittelteil. Auch die eingeflochtene Liebesgeschichte zwischen den Protagonisten ist meiner Meinung nach flach – und außerdem überflüssig. Leider entwickelt sich aus dem Wissenschaftsthriller immer mehr ein Science-Fiction-Roman, dessen Unwirklichkeit in der Auflösung des Rätsels und dem Schluss gipfelt. Etwas weniger fiktional und irreal hätte sicher besser gewirkt.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/2002

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