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Unsere unverstandene Welt

Der Kognitionspsychologe Christian Stöcker erläutert in seinem neuen Buch, welche Folgen die Digitalisierung für den Menschen und die Erde hat.

2020 scheint das Jahr der Exponentialfunktion zu sein: Die Corona-Pandemie hat die mathematische Funktion in die Öffentlichkeit gespült. Täglich schauen wir auf Reproduktionszahlen, wachsende Infektionsraten und den gleichermaßen wachsenden Schulden und Verwerfungen zu.

Große Beschleunigung verstehen, lenken und formen

Schon im Vorwort seines Buchs »Das Experiment sind wir« macht Christian Stöcker die Exponentialfunktion zum zentralen Thema: Das Werk handele von der »Frage, wie wir die große Beschleunigung verstehen, lenken und formen können, dass sie die Menschheit nicht nur nicht in den Abgrund führt, sondern allen Menschen ein besseres Leben ermöglicht«. Stöcker ist Kognitionspsychologe an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Als Experte für digitale Kommunikation hat er den Bundestag und die Enquetekommission für künstliche Intelligenz beraten.

Das Buch überzeugt durch die vielen Beispiele, die der Autor in den verschiedenen Abschnitten einfließen lässt. Am Anfang erklärt er die Exponentialfunktion durch das Beispiel zweier Menschen, die je 30 Schritte machen: Der eine geht normal, der zweite verdoppelt jede seiner Schrittlängen. Während die erste Person weniger als 30 Meter weit kommt, hat die zweite den Erdball fast 30-mal umrundet. Die meisten Menschen sind »sensationell schlecht« darin, solches exponentielles Wachstum zu begreifen.

Das zeigen die Entwicklungen im digitalen Bereich. Im Vergleich zur Industrialisierung durch die Dampfmaschine haben diese in kürzester Zeit unsere Welt umgekrempelt. Täglich tragen Milliarden von Menschen Smartphones mit sich, die deutlich leistungsfähiger sind als jene Rechner, die vor 50 Jahren die ersten Astronauten auf den Mond gebracht haben. So genannte Deep-Learning-Algorithmen programmieren sich selbst, »Big Data« liefert ihnen das Futter. Alpha-Go hat sich nicht nur in kürzester Zeit das komplexe Spiel beigebracht, sondern anschließend den weltbesten Go-Spieler geschlagen. Selbst Experten wissen nicht, was wirklich in den Algorithmen vorgeht, und sind verblüfft zu hören, dass Alpha-Go Züge macht, die menschlichen Spielern fremd sind.

Warum es uns so schwer fällt, die Exponentialfunktion zu begreifen, erläutert Stöcker an seinem Spezialgebiet, der Kognitionswissenschaft. Im Alltag entscheiden wir häufig aus dem Bauch heraus; komplexes Denken kostet zu viel Energie. Zudem halten uns die aus der Psychologie bekannten kognitiven Verzerrungen (etwa kognitive Dissonanz oder der Ankereffekt) davon ab, die ungeheure Komplexität der Welt zu begreifen. Digitale Produkte übernehmen daher vermehrt die Führung vieler Prozesse, denn wir richten uns gern in einer Welt von Alexa, Siri und anderen Bequemlichkeiten ein, ohne zu merken, wie sehr sie uns schon beherrschen. Das führt unter anderem zu neuen Herausforderungen für das Bildungssystem: Was sollten wir wissen, um in dieser schönen, neuen Datenwelt noch einen Rest Autonomie zu bewahren?

Mit zahlreichen Beispielen und Fakten erläutert Stöcker, was wir damit dem Planeten und uns selbst durch die Digitalisierung antun. Zudem betont er, wie wenig Menschen in der Lage sind, sich im Alltag durch ihr kurzfristiges Denken aus der Gefangenschaft zu befreien. Angesichts der Masse an pessimistisch anmutenden Beispielen, insbesondere den nahenden Kipppunkten der Klimakrise oder den weiterhin exponentiell steigenden Kohlenstoffdioxidwerten, fragt man sich, wie sich der Autor am Ende noch optimistisch zeigen kann: Er geht davon aus, die Menschheit könne durch einen Wechsel in der Energieversorgung von fossilen Brennstoffen zu Solar- und Wasserstoffenergie die momentane Entwicklung umkehren.

Das Buch ist insgesamt sehr kenntnis- und faktenreich, gleichzeitig in lockerem Stil geschrieben. Dennoch wagt der Autor an manchen Stellen fragwürdige Thesen, so etwa bei der Frage, ob künstliche Intelligenz den Sprung zur Superintelligenz schaffen – und uns Menschen damit in fast allen Belangen übertreffen – wird, was nur wenige Experten prognostizieren. Ebenso überraschend wirkt sein Optimismus zur Bewältigung der Klimakrise angesichts der gegenwärtigen Tendenzen.

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