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Wie Botaniker ticken

Vielerlei Aspekte, bunt durcheinandergewürfelt: So nähert sich dieses Buch der Wissenschaft von den Pflanzen.

Charlotte Fauve ist Ingenieurin für Landschaftsplanung, Journalistin und Dokumentarfilmerin. Marc Jeanson leitet das größte Herbarium der Welt am Museum für Naturgeschichte in Paris. Wer in diesem Buch was geschrieben hat, ist nicht herauszubekommen. Wolkig erscheinen auch der Titel sowie der Untertitel; sie erschließen sich erst, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat. Das birgt die Gefahr, sich zu verkaufen.

Mit dem »Finden« meinen die Autoren das früher und noch bis heute oft abenteuerliche und auch gefährliche Suchen nach neuen Pflanzenarten, von denen zurzeit durchschnittlich immer noch etwa 2000 pro Jahr entdeckt werden. Unter dem »Ordnen« verstehen sie ganz konkret das Einordnen einer Spezies in ein bereits bestehendes System eines Herbariums, etwas spöttisch »als Blätter zwischen zwei Blättern« bezeichnet. Handelt es sich um eine neue Art, muss sie einen Namen bekommen. Das hört sich einfach an, ist es aber wegen der sehr genau vorgeschriebenen Regeln des Benennens nicht. Das entsprechende Regelwerk heißt heute »International Code of Nomenclature for algae, fungi, and plants«. Es ist ein dicker Wälzer, an den man sich peinlich genau halten muss, soll der vorgeschlagene Name für den »Holotypus« (die Erstbeschreibung) auch wirklich Gültigkeit erlangen. Eine geradezu revolutionäre Neuheit, die mit dem 1. Januar 2012 in Kraft trat: Erstbeschreibungen werden nun auch elektronisch publiziert, und ihre Diagnose (die Beschreibung der Pflanze) darf alternativ auch auf Englisch statt auf Latein verfasst sein.

Bilderreiches Feuilleton

Der Buchtitel »Das Gedächtnis der Natur« ist so allgemein gehalten, dass man daraus kaum auf den Inhalt schließen kann. Für die Autoren besteht das Gedächtnis »in diesen Tausenden getrockneten Pflanzen, und jedes duftende Kron- oder Nebenblatt zeugte vom Fortschritt der Wissenschaft oder vom ersten Kontakt zwischen fremden Kulturen, auf Gedeih und Verderb«. Das klingt poetisch; in diesem Stil ist das ganze Buch geschrieben. Es handelt sich weniger um ein wissenschaftliches, sondern eher um ein literarisch bilderreiches »Feuilleton«, was in keiner Weise schlecht sein muss.

Weiß man dies aber alles vorher und erwartet es auch so, wird man dennoch enttäuscht. Es fehlt ein roter Faden – der Text vermischt alles miteinander, so dass man erst am Ende einen brauchbaren Überblick darüber gewonnen hat, was ein Museums- oder »Heu«-Botaniker so macht. Ein vielleicht treffenderer, nicht ganz ernst gemeinter Titel wäre »Wie Botaniker ticken«. Das französische Original heißt übrigens schlicht nur »Botaniste«.

Jeanson ist noch ein sehr junger Pflanzenkundler, der hier seine eigenen Erfahrungen mit historischen Vorgängern vergleicht, indem er sich auf ihre Spuren begibt und bis zu 200 Jahre später erneut deren Fund- und Entdeckungsorte aufsucht. Für seine Doktorarbeit beschäftigte er sich mit kleineren Palmenarten, die ihn seit der Kindheit interessieren, aber beim Sammeln für ein Herbarium gewisse Schwierigkeiten bereiten. Unter anderem benötigte er Material von einer unscheinbaren Spezies, der Zuckerpalme Arenga longicarpa C.F. Wei, die 1875 in China an einem Berg nahe der Stadt Guangzhou gesammelt worden war. Die Belege davon waren unauffindbar, es gab nicht einmal eine Abbildung; im 19. Jahrhundert war solch eine Expedition eine Weltreise in eine weitestgehend unbekannte und möglicherweise sehr gefährliche Region.

Jeanson setzte sich also in ein Flugzeug, landete in der drittgrößten Stadt Chinas und mietete ein Auto. Ab da wurde es schwierig: Wo suchen, wenn kaum noch ein Quadratmeter unbebaut ist? Keiner der Einwohner erkannte die Pflanze anhand eines mitgeführten Phantombilds. Nach langem Suchen führte Jeansons Erfahrung ihn an das Ufer nahe einem Staudamm, wo er ein Palmenblatt im Wasser entdeckte. »Ich jubelte: Das hier war keine Palme, es war eine Offenbarung.« Der Autor sammelte Belege, übergab auch Samen an einen botanischen Garten in Südchina und flog schließlich wieder nach Hause. Diese Geschichte nimmt im Buch 20 Seiten in Anspruch, unterbrochen von Berichten über andere Forscher in China, über Missionare als Sammler oder über Mohn und Opium.

Mehrfach sprechen Fauve und Jeanson die generellen Probleme heutiger Botaniker an, etwa den anhaltenden Artenschwund, invasive Spezies oder die globalisierte Unkrautflora. Die in Australien weit verbreiteten Eukalyptusbäume beispielsweise wachsen heute zu Hunderttausenden in Brasilien, nachdem man dort die Küstenwälder abgeholzt hat, um Papier herzustellen oder Soja zu gewinnen für eigene und europäische Rinder. Die neuen Bäume trocknen den Boden aus und machen Wasserläufe zu Rinnsalen.

Dieser rücksichtslose Umgang mit der Natur hat schon vor langer Zeit begonnen. Die Autoren benennen mit Michel Adanson (1727-1806) einen aus heutiger Sicht keineswegs vorbildlichen Botaniker und Ethnologen. Ihre Beschreibung des Forschers: »Podor, Senegal, das Schiff liegt im Hafen, Adanson langweilt sich. Zum Zeitvertreib schießt er Affen, dreiundzwanzig Stück in einer Weite von zwanzig Toisen (1 Toise sind zirka 32 Zentimeter), ein Massaker an verängstigten Husarenaffen, die bekümmert von Ast zu Ast hüpfen … Der Dschungel ist (ihm!) im Weg, da legt der Afrikaforscher Feuer daran. Acht Tage später stellt er sehr vergnügt fest, dass es immer noch brennt.«

Solche anekdotischen Schilderungen, meist in Zusammenhang mit französischen Botanikern, reihen sich in dem Buch ohne erkennbare Ordnung aneinander. Manche tendieren in Richtung Schwank, andere eher zu detaillierter Wissenschaft. Man erfährt etwa, wie ein Herbarbogen hergestellt wird, wie er fertig aussieht und was er alles im Lauf der Jahrhunderte noch zusätzlich aufgeklebt bekam. Man liest, welche Formen es gibt, Millionen Belege zu ordnen – zum Beispiel nach der gerade gängigen Systematik oder nach Regionen, in denen die Pflanzen gesammelt wurden. Und man bekommt vermittelt, welche Mühen es macht, diese kostbaren wissenschaftlichen Dokumente vor Ungeziefer zu bewahren, oder was es bedeutet, sein ganzes Leben entsprechenden Arbeiten zu widmen.

Den Text unterbrechen lediglich acht Seiten mit Grafiken, auf denen jeweils ein französischer Forscher in ein zu ihm passendes Herbarblatt hineinmontiert wurde. Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) und Joseph Pitton de Tournefort (1656-1708) sind bekannt, die anderen kommen in hiesigen Lehrbüchern kaum vor. Auch das Literaturverzeichnis enthält neben einigen Internetadressen nur wenige deutschsprachige Quellen.

Ideen- und kulturgeschichtlich ist das Buch durchaus ergiebig, aber wer wirklich sehen will, wie ein Herbarbogen aussieht, sollte sich das Buch »Das Herbarium der Entdecker« vornehmen. Die Bilder dort – Fotos, keine Grafiken – sind so gut, dass man nur den Duft von Heu vermisst.

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