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Ein Standard zum Standard

Dieses Fachbuch führt in die Kosmologie und deren Standardmodell ein.

Matthias Bartelmann, Professor für theoretische Astrophysik an der Universität Heidelberg, hat in diesem Lehrbuch das heutige Wissen zur Kosmologie auf 276 Seiten zusammengefasst. Das gut gegliederte und farbig illustrierte Werk richtet sich an Physikstudierende im Hauptstudium und führt in fast alle Aspekte ein, die nötig sind, um die heutige Kosmologie zu verstehen: das Konzept des homogenen, isotropen Universums, dessen Altersbestimmungen, die thermische Entwicklung des Kosmos, das frühe Universum mit Inflationsphase und der Entstehung des Mikrowellenhintergrunds sowie der darauf folgenden Strukturbildung. Des Weiteren befasst sich der Autor mit der Kosmografie, also der Rekonstruktion der kosmischen Geschichte, mit kosmologisch wichtigen Objekten wie Sternen, Supernovae, Galaxien und Galaxienhaufen sowie mit den unter Letzteren liegenden Halos Dunkler Materie und deren Gravitationslinseneffekt. Nicht behandelt wird allerdings die der Kosmologie zu Grunde liegende allgemeine Relativitätstheorie, die die Leser entweder schon kennen oder deren Ergebnisse sie einfach akzeptieren müssen.

Friedmann-Gleichungen mit Klimmzügen hergeleitet

Als Trostpflaster für die der Relativitätstheorie unkundigen Leser gibt es einen Abschnitt zur newtonschen Kosmologie, in dem mit einigen Klimmzügen die Friedmann-Gleichungen zur kosmischen Expansion aus der newtonschen Gravitation hergeleitet werden. Auf die Problematik eines solchen Unterfangens weist der Autor nach vollendeter Argumentationsakrobatik glücklicherweise selbst hin. Die Entscheidung, keine Einführung in die Relativitätstheorie zu geben, lässt sich kritisieren. Sie hat allerdings geholfen, das Buch hinreichend kurz und fokussiert zu halten. Es gibt ja bereits eine Menge gute Lehrbücher zu diesem Thema.

Das Buch ist sehr flüssig geschrieben, mit einer angenehmen Balance zwischen dem Bestreben nach Vollständigkeit von Argumentationen und didaktischen Kniffen, die es erlauben, auf endlicher Seitenzahl die wesentlichen Elemente kosmologischer Schlussfolgerungen zu skizzieren. Mitunter bleiben dabei allerdings relevante Feinheiten auf der Strecke. So schließt Bartelmann aus den gemessenen Werten für Materie- und Strahlungsdichte, dass es, sofern die Friedmann-Gleichung gilt, zwingend einen Urknall gegeben haben muss.

Damit scheinen ekpyrotische Modelle des Kosmos, die durch zyklische Expansion und Implosion des Raums einen Urknall vermeiden, kategorisch ausgeschlossen zu sein, obwohl diese ebenfalls auf der Friedmann-Gleichung beruhen. Fehlt den Verfechtern solcher alternativen Modelle kosmologisches Grundwissen? Die Antwort ist nein, hingegen beruht die Argumentation von Bartelmann auf einer unzulässigen Extrapolation der Zustandsgleichung des strahlungsdominierten Universum zurück zum Anfang der Zeit; demgegenüber setzen ekpyrotische Modelle, aber auch das in dem Buch behandelte Inflationsmodell der Standardkosmologie, für sehr frühe Zeiten andere Zustandsgleichungen an.

An dieser und manch anderer Stelle wäre eine deutliche Kennzeichnung von impliziten Annahmen und den daraus folgenden Grenzen der Argumentation zum Nutzen des Lesers gewesen. Studierende der Kosmologie sollten nicht nur in die Lage versetzt werden, das momentane Weltbild zu verstehen, sondern es auch zu hinterfragen. Solche Punkte sind ja Ansatzstellen für Erweiterungen des Standardmodells durch künftige Forscher.

Fairerweise ist anzumerken, dass es an zahlreichen Stellen im Buch solche Verweise auf Hintergründe und Annahmen gibt. Das Buch hat sehr wohl das Anliegen, neben den relevanten Grundlagen und Beobachtungen auch die Grenzen der heutigen Kosmologie aufzuzeigen. Ausgesprochen gelungen sind die vielen Randnotizen, die Hinweise geben, wie im Text nur erwähnte Sachverhalte selbst zu erschließen oder zu recherchieren sind.

Summa summarum kann ich das Buch allen Studierenden der Physik, die sich mit dem kosmologischen Standardmodell vertraut machen möchten, empfehlen. Die Argumentationsketten der Kosmologie sind gekonnt dargestellt, die erwähnten Kritikpunkte nicht gravierend, und für weiter gehende Studien werden die relevanten Originalarbeiten inklusive deren Webadresse angegeben. Das Buch wird sich gewiss zu einem Standardwerk des kosmologischen Standardmodells für Vorlesungen und Selbststudien etablieren.

Hinweis der Redaktion: Spektrum der Wissenschaft und Springer-Verlag GmbH gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. Spektrum der Wissenschaft rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.

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