Direkt zum Inhalt

Zeit spielt keine Rolle

Innovative Wege helfen beim Begreifen der Mathematik. Das verdeutlicht Stanford-Professorin Jo Boaler in ihrem Bildungsratgeber.

»Wir können alle alles lernen«, schreibt Jo Boaler in ihrer Einleitung. Und kurz darauf: Was uns daran hindere, sei nur »die irrige Überzeugung, dass die eigene Intelligenz mehr oder weniger unveränderlich sei«. In diesem Moment war ich geneigt, den Ratgeber verärgert wegzulegen, in die Ecke, wo sich Bücher zum »Positiven Denken« stapeln. Denn von einer Professorin für Mathematikdidaktik an der Stanford University hätte ich erwartet, dass sie sich mit den statistisch gut belegten Ergebnissen der Intelligenzforschung differenzierter auseinandersetzt: Große Langzeitstudien legen eine überraschende Stabilität des IQ nahe. Statt auf diesen Befund und seine (begrenzte) Bedeutung einzugehen, tut Boaler ihn einfach als veraltet ab. Doch damit läuft sie Gefahr, dass man auch ihre eigenen Erkenntnisse weniger ernst nimmt.

Intelligenz ist nicht alles

Was neben der Intelligenz noch zählt, wenn wir lernen, hat Boaler nämlich selbst erforscht: Das Vertrauen, sich verbessern zu können; Anstrengung und Fehler nicht zu fürchten, sondern willkommen zu heißen; Menschen zu haben, insbesondere Lehrkräfte und Eltern, die an einen glauben – all das sind Dinge, die enormen Einfluss darauf haben, was ein Kind in der Schule und vor allem später im Leben wirklich erreichen kann. Ihre Sicht unterstreicht sie mit ausgewählten Biografien ebenso eindrucksvoll wie mit Befunden aus eigenen Studien, in denen Lehrerinnen und Lehrer Kindern dabei halfen, ein »Growth Mindset« zu gewinnen – die Überzeugung, geistig immer weiterzuwachsen.

Langsame Mathegenies

Wussten Sie, dass etliche Mathegenies, etwa die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani, ihren eigenen Aussagen nach eher langsam im Umgang mit Zahlen sind und in der Schule sogar als matheschwach galten? Dafür, wie gut wir Mathematik verstehen, wie tief wir in ihre Geheimnisse vordringen können, »spielt Zeit keine Rolle«, behauptet Jo Boaler, obwohl sie selbst zu den Matheschnelldenkern gehört. Hier sieht die Lehrerin vermutlich zu Recht einen der größten Irrtümer der Schulpädagogik: Schon bei Zweitklässlern wird bewertet, ob sie ihre Aufgaben fix genug und fehlerfrei abarbeiten. Kinder bemerken: »Oh nein, mein Sitznachbar denkt ja dreimal schneller als ich!« Kein Wunder, dass sich Matheangst und die Idee »Mathe kann ich einfach nicht« schon früh in den Köpfen festsetzen.

Laut Boaler sollten sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht mit nur wenigen Aufgaben beschäftigen, intensiv und ohne Zeitdruck. Wichtig sei es für sie zu erkennen: Ich muss nicht gleich alles mühelos verstehen; ich darf auf dem Weg viele lehrreiche Fehler machen. Außerdem sollten Kinder die Möglichkeit haben, ein mathematisches Konzept auf verschiedensten Wegen zu begreifen. Fortschrittliche Mathebücher und Lehrkräfte versuchen zwar gelegentlich den multidimensionalen Ansatz, wie ihn Boaler beschreibt. Doch der dicht gepackte Lehrplan und die Vorgaben für die Leistungsbewertung lassen oft wenig Spielraum.

Viel zu kurz, so Boaler, komme auch der Ideenaustausch zwischen den Schülern. Die Forscherin legt Untersuchungen vor, die einen deutlichen Wissensvorsprung von routinierten Teamarbeitern selbst noch auf dem College nahelegen. Gruppenarbeit funktioniert allerdings nur, wenn jeder seine Perspektive vorträgt und andere versuchen, diese vorbehaltlos nachzuvollziehen – auch das muss geübt werden. Somit gibt das Buch allen, die Kinder und Jugendliche beim Mathelernen unterstützen wollen, einen Strauß innovativer Strategien an die Hand.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Sind wir nicht alle ein bisschen ambivertiert?

Oft ist beim Thema Persönlichkeit die Rede von extravertiert oder introvertiert. Dabei stellen diese beiden Eigenschaften zwei Extreme dar, zu denen sich nur die wenigsten Menschen zuordnen würden. In der aktuellen »Woche« geht es um den Begriff der »Ambiversion«: ein gesundes Mittelmaß?

Spektrum der Wissenschaft – Vögel - Gefiederte Vielfalt

Die kognitiven Fähigkeiten von Vögeln erstaunen selbst Fachleute immer wieder. Wie schaffen es Vögel, trotz ihres winzigen Gehirns, Werkzeuge zu benutzen oder sich im Spiegel zu erkennen? Wie kam es zum Gesang der Vögel und was verbirgt sich dahinter? Wie kommt es zu den vielfältigen Farben und Mustern des Federkleids? Studien zur Embryonalentwicklung zeigen, auf welchen theoretischen Grundlagen die Farb- und Formenfülle im Tierreich beruhen. Und die Vorfahren der Vögel, die Dinosaurier, erwiesen sich als fürsorgliche Eltern.

Spektrum Kompakt – Verhaltensbiologie – Tierisch sozial

Vor allem in Haustieren sehen wir Persönlichkeitsmerkmale wie Mut und Neugier oder Verschlossenheit. Doch nicht nur Hund und Katze haben eine Persönlichkeit, auch im Aquarium und im Ozean verhält man sich gemäß Charakter. Denn eine Persönlichkeit zu besitzen ist keine menschliche Eigenheit.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.