Direkt zum Inhalt

Unbegründete Ängste

Führt man eine Umfrage durch, welche Gefahren uns heute besonders bedrohen, erhält man von Laien ganz andere Antworten als von Risikoforschern. Ortwin Renn, der zu den renommierten Vertretern dieses Wissenschaftsbereichs zählt, kann das anhand zahlreicher Studien belegen. In seinem neuen Buch "Das Risikoparadox" geht er der Frage nach, warum das so ist. Zudem versucht er, die tatsächlich größten Risiken dingfest zu machen. Kann man, fragt Renn, die Öffentlichkeit darin schulen, Gefahren realistischer einzuschätzen? In vier Abschnitten auf rund 600 Seiten will er hierfür die Voraussetzungen schaffen.

Zunächst zeigt der Autor auf, welche Dinge den meisten Menschen als besonders gefährlich erscheinen. Chemieindustrie, Umweltbelastungen, technische Risiken und Unfälle stehen hier ganz oben. Tatsächlich aber spielen sie als Todesursachen und Gründe für schwere Erkrankungen nur eine untergeordnete Rolle, wie Statistiken belegen. Deutlich höher ist das Risiko eines verhaltensbedingten schweren Leidens, etwa Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Raucherlunge oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Renn fragt nach dem Grund für diese verzerrte Wahrnehmung und unternimmt dabei einen Exkurs in die Wahrnehmungspsychologie. Er beleuchtet intuitive Mechanismen der Urteilsbildung, geht auf den Einfluss der Medien ein und erörtert, nach welchen unbewussten Regeln wir Gefahren bewerten.

Klimaschutz, jawohl! Aber nicht gleich, oder?

Auch erörtert Renn, welche Risiken wir tendenziell unterbewerten, und führt hierbei den Begriff der "systemischen Risiken" ein. Als Paradebeispiel nennt er die drohenden Folgen des Klimawandels, die seiner Meinung nach sämtliche Kriterien systemischer Risiken erfüllen: Sie betreffen die gesamte Erde, zeichnen sich durch eine nichtlineare Ursache-Wirkung-Beziehung aus und sind somit schwer kalkulierbar, wirken auf zahlreiche Prozesse zugleich ein – und erzeugen keinen direkten Handlungsdruck.

Der Autor macht Vorschläge, wie wir individuell und gemeinschaftlich besser auf die großen Risiken unserer Zeit reagieren können. Er favorisiert eine nachhaltige Entwicklung, das heißt ein Sicherstellen menschenwürdiger Lebensverhältnisse auch in der Zukunft. "Nachhaltigkeit" bedeutet für ihn, den systemischen Risiken unserer Zeit zu begegnen – etwa, indem man soziale Chancen gerechter verteilt, die individuelle Lebensqualität verbessert und unser Lebensumfeld durch Reduzierung der Treibhausgasemissionen sowie ein breiteres Spektrum von Nahrungspflanzen ökologisch widerstandsfähiger macht.

Die Masse hat immer recht

Bisweilen fühlt man sich bei der Lektüre ertappt – etwa an den vielen Stellen, an denen Renn seine Leser zum Mitdenken auffordert und dabei Versuche beschreibt, die er mit seinen Studenten durchgeführt hat. Soll beispielsweise ein Teilnehmer beim Betrachten zweier Striche sagen, welcher davon der kürzere ist, und haben alle anderen Teilnehmer vorher nach heimlicher Absprache den falschen Strich genannt, beugt er sich dem Konformitätsdruck und deutet seinerseits auf den falschen Strich.

Auffällig sind die vielen Wiederholungen, die dem Buch den Charakter einer Vorlesung verleihen. Sie führen dazu, dass man das Werk problemlos mit Unterbrechungen lesen kann, zumal der Autor neue inhaltliche Abschnitte vorher ankündigt. Hochspannend sind Renns Ausflüge in benachbarte Themengebiete. Quasi nebenbei lernt man beim Lesen eine Menge über Klimaforschung, Statistik, Mechanismen der Entscheidungsfindung und Zusammenhänge in der Marktwirtschaft. Risikoforschung, so viel wird beim Lesen klar, geht alle an.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Der Mönch, der unsere Zeitrechnung erfand

Was hat unsere Zeitrechnung mit einem Mönch aus dem Jahr 525 zu tun? In der aktuellen »Woche« erfahren Sie, warum wir heute das Jahr 2025 schreiben – und wie Ostern damit zusammenhängt. Außerdem: Wie gefährlich das Chikungunya-Virus ist und was Vitamin-Infusionen wirklich bringen.

Spektrum - Die Woche – (Über)leben mit ME/CFS

ME/CFS verändert Leben radikal. Die Ärztin Natalie Grams schildert in der Titelgeschichte eindrücklich ihren Alltag mit der Krankheit. Außerdem in »Die Woche«: Ein Laser aus Neutrinos, Satellit soll vor Sonnenstürmen warnen und mehr.

Spektrum der Wissenschaft – Präzision statt Zufall – Genomeditierung revolutioniert Pflanzenzucht

Seit der Mensch Pflanzen anbaut, versucht er auch, Erträge und/oder Widerstandskraft durch Zucht gezielt zu optimieren. Was zunächst als simple Auslese begann, hat sich unter anderem dank der Fortschritte in der Molekularbiologie längst deutlich erweitert. Doch Methoden, bei denen ins Erbgut der Gewächse eingegriffen wird, wecken bei vielen Menschen Bedenken und stellen auch die Gesetzgebung vor Herausforderungen. Wie präzise die neueren Verfahren sind und welche Regelungen derzeit gelten oder diskutiert werden, erfahren Sie in unserem Titelthema. Weitere Themen: Im Notfall kann die Wasserversorgung schnell an ihre Grenzen kommen – eine große Aufgabe für den Katastrophenschutz. Was können Klimaforschende aus historischen Daten zur Weinqualität in Europa über die Vergangenheit lernen, und warum schmeckt alkoholfreier Wein so anders als solcher mit Alkohol? Außerdem gehen wir der Frage nach, was Fischschwärme, Hirnströme und Supraleitung gemeinsam haben und wie Emergenz diese Komplexität erklären könnte.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.