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Dominanz der Ränder

Eine Politikwissenschaftlerin übt Kritik am »Schweigen der Mitte«.

Die Landtagswahlen im thüringischen Freistaat am 27. Oktober 2019 endeten damit, dass die Die Linke und die AfD, die an den Rändern des politischen Spektrums stehen, gemeinsam die absolute Mehrheit bekamen. Für Ulrike Ackermann, die Autorin dieses Buchs, bestätigt das die These, wonach die politische Mitte in Deutschland schwächer geworden ist. Die Leiterin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Bad Homburg beklagt in dem Essayband, der sich an ein breites Publikum richtet, den nachlassenden Einfluss politisch gemäßigter Kräfte. Es bedürfe solcher, um der Polarisierungsfalle von Rechts- und Linksaußen zu entgehen, schreibt die Autorin. Zum einen erinnert sie etwas nostalgisch an den Berliner Kongress für kulturelle Freiheit vor 70 Jahren, auf dem Intellektuelle wie Raymond Aron, François Bondy, Arthur Koestler, Melvin Lasky und Richard Löwenthal die Freiheit gegen totalitäre Tendenzen von rechts und links verteidigten. Zum andern gedenkt sie des großen Liberalen Ralf Dahrendorf und seines letzten Buchs über die »Versuchungen der Unfreiheit« mit einer Würdigung antitotalitärer Intellektueller wie Hannah Arendt und Karl R. Popper.

Identitätsmuster, die sich hochschaukeln

In den folgenden sechs Kapiteln, die sich mit Öffentlichkeit und Meinung, Polarisierung, politischen Vertrauenskrisen, neuen gesellschaftlichen Spannungen, Heimat und Identitätspolitik befassen, nimmt die Autorin verschiedene Missstände ins Visier. Dazu gehören ihrer Ansicht nach eine verbreitete Moralisierung, ein grassierender Antifaschismus, ein hofierter Kulturrelativismus und eine Erregungsmanie. In der Tat ist die Polarisierung etwa beim Thema Migration unübersehbar, wenn Ackermann die Kluft zwischen der kosmopolitischen Elite und einem Großteil der Bevölkerung zur Sprache bringt.

Es gibt Ackermann zufolge nicht nur eine Polarisierungsfalle, sondern auch eine Konsens- und eine Identitätsfalle. Eine Konsensfalle komme durch das Herunterspielen legitimer Konflikte zu Stande, und die Identitätsfalle trete im Zuge des verbreiteten Kollektivismus zu Tage. Rechte und linke Identitätsmuster – kulturelle, sexuelle, ethnische – schaukelten sich gegenseitig hoch, heißt es in dem Buch. Ackermann bringt die Probleme hier gelungen zur Sprache. Ihre Kritik an den verschiedenen Gesinnungslagern, die kaum zu Kompromissen fähig seien, trifft ins Schwarze. Die Autorin erweist sich als leidenschaftliche Verfechterin des Rechtstaats und der Freiheit.

Gleichwohl ist einiges zu kritisieren. Erstens bleibt der von Ackermann vielfach verwendete Begriff der Mitte recht vage, sie füllt ihn zu wenig mit Inhalt. Zweitens ist es nicht optimal, derart viele Themen in einem Buch anzuschneiden. Manches geht dadurch mehr in die Breite als in die Tiefe, etwa der Abschnitt über den Historikerstreit. Drittens widerlegt Ackermann, wenn sie ihre Lesefrüchte ausbreitet, indirekt und unfreiwillig ihre These, dass der Einfluss Intellektueller aus der politischen Mitte schwinde. Viertens neigt sie mitunter zu pauschalen, nicht immer begründeten Urteilen. Etwa: »Es gäbe heute keine AfD, wenn Liberale und Linke nicht so versagt hätten.«

Der demokratische Verfassungsstaat überlebt auch in Thüringen – ungeachtet der Polarisierung, die dort um sich gegriffen hat und greift. Aber die Kritik Ackermanns, die weder zu Kulturpessimismus neigt noch alarmistisch daherkommt, ist alles in allem ebenso berechtigt wie ihr Plädoyer für eine offene Gesellschaft. Die Lektüre lohnt.

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