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Optimierung in rasantem Tempo 

Die Neurowissenschaftlerin Sarah-Jayne Blakemore zeigt, welch enormes Potenzial den Umbauprozessen im jugendlichen Gehirn innewohnt.

Mein Gehirn ist nicht kaputt«, beschwert sich die pubertierende Yaamin in dem gefeierten Londoner Theaterstück »Brainstorm«. Dass ihr Gehirn so sei, habe einen Sinn: »Ich werde, wer ich bin.« Das trifft ziemlich exakt die zentrale Botschaft des Buchs von Sarah-Jayne Blakemore. Die renommierte Neurowissenschaftlerin hebt darin nicht auf vermeintliche kognitive oder emotionale Defizite von Jugendlichen ab. Vielmehr betont sie das enorme Potenzial, das die Adoleszenz für die persönliche Entwicklung birgt.

Die Pubertät sei zwar keine Erfindung des Abendlands, wie manchmal behauptet wird, erklärt die Autorin. Kulturübergreifend sei das Jugendalter tatsächlich von erhöhter Risikobereitschaft, starker Orientierung an Gleichaltrigen und »Sensationslust« geprägt – egal ob eine Gesellschaft Jugendliche wie Kinder oder wie mündige Erwachsene behandelt. Aus dem riskanten Verhalten Halbwüchsiger könne man aber nicht schließen, dass ihr Gehirn schlechter funktioniert. Laut Blakemore, die am University College in London seit vielen Jahren die kognitive Entwicklung von Jugendlichen erforscht, trifft in vielerlei Hinsicht das Gegenteil zu. Selbstbeherrschung und die Fähigkeit zur Introspektion, also die Kunst, sich selbst einzuschätzen, verbessern sich vom 10. bis zum 19. Lebensjahr stetig – zumindest in Experimenten. Auch nehmen Jugendliche Risiken durchaus realistisch wahr. Der Grund, warum sie sich im echten Leben trotzdem oft waghalsig verhalten: Im Eifer des Gefechts lassen sie sich extrem von Einschätzungen, Werten und Erwartungen Gleich­altriger leiten.

Auf die Anderen ausgerichtet

Diesen »Peer-Effekt« sieht Blakemore aber als Chance – so wie die Initiatoren einer Anti-Mobbing-Kampagne an US-amerikanischen Schulen. Zunächst ermutigte man Schüler, sich für einen besseren Umgang miteinander einzusetzen, und ließ sie dazu Poster mit ihrem Foto und Namen gestalten und sich einen Slogan ausdenken. Tatsächlich genügte es, wenn sich eine kleine Zahl an Jugendlichen öffentlich gegen Mobbing positionierte. Die Stimmung verbreitete sich rasch an der ganzen Schule, und die Zahl der Vorfälle nahm ab.

Die Lektüre des Buchs ist auch für Bildungspolitiker empfehlenswert, die sich oft zu sehr auf die Förderung im Kindesalter konzentrieren. Gerade im Jugendalter optimiert sich das Gehirn in rasantem Tempo. Die Myelinisierung der Neurone etwa, welche die Reiz­leitung beschleunigt, setzt sich bis ins junge Erwach­senenalter fort. Und »logisches Denken« ist in der späteren Adoleszenz messbar erfolgreicher trainierbar als in jüngeren Jahren. Solche Ergebnisse legen nahe, dass es sich lohnen könnte, beim Erlernen bestimmter kognitiver Fähigkeiten geduldig das passende Alter abzuwarten.

Blakemores Werk ist gespickt mit Erkenntnissen aus ihrer eigenen Forschung und der anderer Wissenschaftler. Studien erklärt sie anschaulich und bewertet sie kritisch: Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen – welche nicht? Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs bleibt das Buch spannend, weil die Autorin die Leser immer wieder an persönlichen Erlebnissen im Kontext ihrer Arbeit teilhaben lässt.

In der Adoleszenz erfinden Jugendliche sich selbst, sagt Blakemore, jetzt entwickeln sie ein Gefühl dafür, wer sie eigentlich sind. Dass dabei der »vernünftige« Präfrontalkortex viel später ausreife als das Emotionssystem, gilt laut neuen Untersuchungen allenfalls für einen Teil der Teenager. Ziemlich sicher aber reagiert das Gehirn in der Pubertät besonders stark auf Belohnungen. Vielleicht auch deshalb erleben Leidenschaft und Kreativität nun ihren Höhepunkt. »Mein Gehirn ist wunderschön«, findet Yaamin: »Ich bin in einer Stadt, in der ich noch nie war, und ich sehe helle Lichter und neue Ideen und Angst und Möglichkeiten und tausend Millionen Straßen, und alle leuchten und blinken.«

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