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Mit heißer Nadel gestrickt

Der Dichter Hans Magnus Enzensberger soll gesagt haben, Linguisten seien Leute, die das Weltgeschehen aus dem Satz "Hänschen fährt Fahrrad" herleiten können. Falls der Ausspruch authentisch ist, nimmt er etwas aufs Korn, das bei Sprachenthusiasten tatsächlich nicht selten vorkommt: Das Bestreben nämlich, einen Rundumschlag à la "Alles, was ich zum Thema Sprache längst einmal loswerden wollte" zu publizieren.

Ehrenrührig ist das nicht – insbesondere, wenn man fachkundig ist. Daniel Scholten, Publizist und Krimi-Autor, kann denn auch mit einem Studium der Historischen Sprachwissenschaft, Deutschen Linguistik und Ägyptologie aufwarten. Zudem betreibt er einen Podcast über die Grammatik und Stilistik des Deutschen. In seinem neuen Buch "Denksport-Deutsch" beschäftigt er sich mit unterschiedlichsten Themen. Er behandelt die Entstehung der grammatischen Geschlechter und taucht dabei tief in die indogermanische Vergangenheit ein. Er befasst sich mit gutem deutschen Stil und spricht dabei den Dativ von der Anschuldigung des Genetivmords frei. Er verarztet den deutschen Konjunktiv und nimmt die journalistische Zitierpraxis aufs Korn – und er bläst den angeblich kurz bevorstehenden Untergang des Deutschen ab. Das liest sich alles recht nett und munter, informativ ist es obendrein, und man kann es ganz nach Gusto in kleinen Häppchen genießen. Genau darin liegt aber auch das Problem.

Sprachpolizei oder nicht?

Zunächst lässt das Werk einen roten Faden vermissen. Soll es nun um sprachliche Fossilien im Deutschen gehen oder um die korrekte Verwendung des Konjunktivs? Sprachgeschichte oder zeitgenössische Sprachnorm? Man kann natürlich fragen, wieso nicht beides zwischen die Buchdeckel passen sollte. Leider aber klärt der Autor das Verhältnis zwischen beiden Sichtweisen nicht, was zu unaufgelösten Widersprüchen führt. Einerseits kanzelt er die Bastian Sicks dieser Welt ab, weil sie sich anmaßen, die Muttersprachenkompetenz ihrer Mitmenschen anzuzweifeln. Andererseits konstatiert er wenig später: "Wer etwas erinnert (statt jemanden oder sich an etwas), spricht (...) einfach nur falsch." Ja, was denn nun?

An solchen Stellen zeigt sich, dass der Band aus dem Geiste eines Blogs heraus entstanden ist. Er wirkt über weite Strecken wie eine Sammlung von Einträgen, die eher lose um ein Thema herum gruppiert wurden – und deren Umfang wie Argumentationstiefe davon abhängen, was den Autor spontan interessiert oder geärgert hat. Dabei kam es prompt zu einigen Schludrigkeiten. "Die Sache" heißt auf italienisch "la cosa" und nicht "il cosa". Kausative werden im Urindogermanischen mit o- und nicht mit a-Vokalismus gebildet. Das "a" ist die urgermanische Vertretung des "o" (der Autor formuliert das zumindest missverständlich).

Manchmal geraten Scholtens Aussagen zu vollmundig. Unbestreitbar: die Entschlüsselung des Hethitischen war von immenser Bedeutung für die indogermanische Sprachwissenschaft. Aber dass sie "alle großen Gewissheiten über das Urindogermanische gefällt" habe, ist deutlich übertrieben – das wäre ja auch ein Armutszeugnis für eine oft glänzend bewährte Methodik. Und Scholtens Behauptung, keine einzige indogermanische Sprache konstruiere eine Präposition mit dem Genetiv, ist nicht nur übertrieben, sondern bereits falsch. Altgriechisch hat mehr als ein Dutzend Präpositionen, die auch oder sogar nur mit dem Genetiv konstruiert werden.

Indoeuropäisch vs. indogermanisch

"Indoeuropäisch" zu sagen statt "indogermanisch", ist hingegen nicht falsch, wie Scholten unterstellt. Es ist schlicht eine Anpassung an internationale Gepflogenheiten. Eine solche Umbenennung ist vielleicht nicht verkehrt angesichts der unrühmlichen Rolle, die die Indogermanistik im 3. Reich gespielt hat. Darum liest man Ausführungen, in denen Scholten den Erfolg des Indogermanischen auf ein "Survival of the Fittest" zurückführt, mit Befremden und Unbehagen. Zumal er damit auf eine Frage antwortet, die sich gar nicht stellt. Von den indogermanischen Sprachen genießen heute vor allem das Englische und das Spanische weltweite Verbreitung, und zwar infolge allgemein bekannter historischer Gegebenheiten. Dass beide Sprachen indogermanisch sind, ist in diesem Zusammenhang ganz unerheblich. Man wünscht sich, ein Lektor hätte eingegriffen und darauf aufmerksam gemacht, dass manche Leser solche Darstellungen in den gänzlich falschen Hals bekommen können.

Insgesamt kann man Lesern, die ein solches Werk zu erwerben bereit sind, mehr Differenzierung zumuten. Natürlich möchten sie unterhalten werden und kann das Buch darum keine wissenschaftliche Abhandlung sein. Selbstverständlich ist das Zusammentragen von Literaturangaben und Überprüfen von Zitaten eine nervtötende Angelegenheit. Trotzdem erscheint es als nicht so ganz die feine Art, auf weiterführende Literaturangaben komplett zu verzichten mit dem Hinweis, die "Literatur der historischen Sprachwissenschaft ist ohne Fachstudium nicht zugänglich". Für so unbedarft sollte man seine Leser nicht halten – und die Fachkollegen nicht durchweg für so unfähig, sich verständlich auszudrücken. Es bleibt der Eindruck, dass hier mit allzu heißer Nadel gestrickt wurde und der Autor das Potential für ein vergnügliches und instruktives Buch verschenkt hat. Schade.

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