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»Der 8. Oktober«: Das mitleidlose Versagen der Linken

Eva Illouz sieht eine Ursache für die Mitleidlosigkeit vieler Linker gegenüber den jüdischen Opfern des Hamas-Angriffs in einer toxisch gewordenen Postmoderne.

Täglich verstören uns Bilder von Krieg, Zerstörung und Hunger in Gaza. Man bekommt sie kaum aus dem Kopf. Viele empfinden angesichts dieser Bilder vor allem Mitleid für die Menschen dort, mitunter einschließlich für die Hamas-Terroristen. Aber diese Gefühle muss man, so schwer es fallen mag, ausblenden, wenn man den Essay der israelisch-französischen Soziologin Eva Illouz angemessen würdigen will.

Ihr Buch hat sie im August 2024 beendet, gerade zehn Monate nach dem Massaker der Hamas in Israel. Sie fragt darin gleichsam verstört, warum Mitleid für Juden und Israelis – selbst in den drei Wochen vom 8. Oktober bis zur ersten Reaktion des israelischen Militärs am 28. Oktober 2023 – weitgehend ausgeblieben ist.

Als Leser muss man sich zu diesem Datum zurückversetzen: »Der 8. Oktober« beginnt mit vielen internationalen Stimmen des Tages, die das Massaker vom Vortag bejubeln, darunter sogar Stimmen von Professoren der Columbia University und der Harvard University – das Spektrum reicht von Judith Butler bis hin zum »Star-Professor« Andreas Malm aus Lund, Schweden. Selbst die Jüdisch-Französische Friedensunion (UJFP) reiht sich da ein. Warum, so fragt Illouz, verdienten Juden – anders als Palästinenser – direkt nach diesem Massaker nicht das »Mitleid«, das die Autorin mit Rekurs auf Rousseau, Schopenhauer und Darwin als anthropologische Konstante sieht?

Als Linke gegen die Linke versucht sie zu erklären, wieso vornehmlich akademische Kreise in den Geisteswissenschaften den Juden damals ihr Mitleid versagten. Ihre Argumente spitzt sie gegen die sogenannte French Theory zu, gegen Werke von Poststrukturalisten wie Jacques Derrida, Michel Foucault et cetera. Ihre Ideen wurden in den 1970er Jahren in den »Humanities« US-amerikanischer Universitäten populär, radikalisiert und – etwa durch Judith Butler – in dieser radikalisierten Form wieder nach Europa reimportiert. In ihrem Essay macht Illouz so die Dominanz der französischen Theoretiker in akademischen Milieus verantwortlich für den weit verbreiteten Antisemitismus Linker im Westen.

Die Dekonstruktion der Wirklichkeit

Die Autorin wirft den Vordenkern dieses Milieus vor, dass sie unter dem Einfluss von Antidemokraten wie de Sade, Nietzsche und Heidegger gegen die Aufklärung einen »Pantextualismus« konzipiert hätten, der »die Gesellschaft zu einem riesigen Netz von Zeichen, Texten, Diskursen, diskursiven Formationen« mache. Derridas Dekonstruktion »zielte auf den Nachweis ab, dass Texte keine stabile Bedeutung aufwiesen und folglich die Wirklichkeit selbst keinen Bezugspunkt mehr für sie bilden könne.« Befreit von Fakten und Sachverhalten würden gesellschaftliche Prozesse so zu einem Netz von Zeichen. Es gehe dann darum, in diesem Netz und damit faktisch in jeder sprachlichen Äußerung einen bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinerten Begriff von »Macht« beziehungsweise »Formen von Unterdrückung« zu identifizieren.

Diese Grundannahmen postmoderner Theorien immunisierten diese so, dass sie nicht mehr falsifizierbar seien. Wenn Macht ohnehin alles bestimmt, braucht man ihr Wirken nicht mehr nachzuweisen, sondern nur noch ihre konkrete Ausprägung zu benennen. Sexismus, Kapitalismus, Rassismus, disziplinarische Überwachung und Orientalismus formten sich unter diesen Prämissen zu einer »umherwandernden Struktur« der neuen Unterdrückung. So sei eine »autoritäre Wissenschaft« entstanden, die Moralität auf die Spitze treibe und entgegengesetzte Strukturen zum Schweigen bringe.

Das erklärt aber noch nicht, wieso Juden und Israelis von diesem Mitleid ausgeschlossen seien. Illouz untersucht dazu den Einfluss der »French Theory« auf Minderheiten und Identitäten sowie die allgegenwärtige Opferkonkurrenz. Sie belegt ihre Annahmen durch viele Beispiele. So lebten Juden und Schwarze – gleichermaßen diskriminiert – solidarisch in denselben Stadtvierteln. Als Anfang der 1970er die Obergrenzen fielen, welche die Anzahl jüdischer Studierender an US-Universitäten begrenzt hatten, nutzen viele von ihnen diese Chance und assimilierten sich erfolgreich in die Mehrheitsgesellschaft, die Schwarzen blieben meist zurück. Zur selben Zeit setzte die Aufarbeitung des Holocausts ein, die Juden zusätzlich große Aufmerksamkeit einbrachte.

Zudem erstarkte der Islam zum Beispiel in Frankreich und den USA, verschmolz zum Teil mit der Linken, und selbst Hamas-nahe Gruppen infiltrierten westliche Universitäten und gewannen an Einfluss. Durch die parallel wachsende Verbreitung der »Post-colonial Studies« entstand die manichäische Vorstellung einer permanenten Kolonisierung des Südens durch (böse) Weiße, welche die (guten) Minderheiten unterdrücken. Den Juden wurde im Zuge dieser Entwicklungen der Opferstatus als inzwischen »dominanter Minderheit« entzogen. Sie wurden den »Weißen« zugeschlagen, mit dem Stempel »Unterdrücker« versehen und mit dem Vorwurf konfrontiert, die Shoah zu instrumentalisieren – eine typische Opfer-Täter-Umkehr. Auch verhelfe der Antizionismus zu »kognitivem und identitärem Trost« und zu einem Gewinn im Opferstatus. Die Juden würden dagegen inzwischen sogar für die Weltzerstörung verantwortlich gemacht und dämonisiert.

Mag manchem diese Argumentation als wilder Ritt durch und gegen die Postmoderne vorkommen: Eva Illouz‘ Essay ist aber soziologisch und sozialpsychologisch gut begründet, und ihre Argumente sind mit Beispielen und Anmerkungen gut belegt. So erinnert sie daran, dass sich nach der Ermordung von George Floyd 2020 rund 600 jüdische Organisationen solidarisch mit der »Black Lives Matter«-Bewegung erklärt haben. »Am 8. Oktober 2023 aber blieben viele ›Black Lives Matter‹-Gruppen stumm oder solidarisierten sich mit der Hamas.« Darf man sich dann noch wundern, dass die Autorin ihre Verletztheit als Jüdin und vor allem ihre Enttäuschung als Linke deutlich ausspricht? Entwertet ihr Engagement jedes ihrer zum Teil vielleicht überspitzten Argumente?

Kritisieren muss man aber, dass Eva Illouz Israels Politik vor dem Massaker durch die Hamas vollkommen ausblendet. Fragen kann man, ob ihre Erklärungen für das Ausbleiben des Mitleids wirklich ausreichen. Und stark wundern muss man sich, dass der Suhrkamp Verlag fast ein Jahr gebraucht hat, um die deutsche Ausgabe dieses Essays zu veröffentlichen (im französischen Original ist er am 3. Oktober 2024 erschienen).

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