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Leben in der Matrix

Wie beeinflusst das Internet unser Denken und Handeln? Eine Psychologin, die Europol und FBI zu Cyberkriminalität berät, klärt auf.

Jugendliche verabreden sich in einem Café, doch statt miteinander zu sprechen, sitzen sie allesamt schweigend über ihre Smartphones gebeugt. Eine junge Mutter spielt das Onlinespiel »FarmVille«, wird dabei vom Geschrei ihres drei Monate alten Sohns gestört, verliert die Nerven und schlägt das Kind gegen den Computer, woran es stirbt.

Anhand solcher realer Beispiele befasst sich die Cyberpsychologin Mary Aiken damit, was das Internet, soziale Medien und Onlinespiele mit uns machen. Wie gehen wir mit ihnen um? Wie verändern sie unser Sozial­verhalten, unsere Empfindungen, Begierden und Kontrollmechanismen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich das noch sehr junge Forschungsfeld der Cyberpsychologie, ein Teilbereich der Medienpsychologie.

Das mit Fakten gespickte Buch ist für alle Leser geeignet, die sich für die psychologischen und sozialen Auswirkungen der Onlinewelt interessieren. Aiken beschreibt den Cyberspace als einen Ort, der aus einer komplexen Matrix menschlicher Daten besteht. Als Eingangstür fungieren Technologien wie Smartphones, Tablets und Computer. Aus psychologischer und soziologischer Sicht nimmt dieser virtuelle Raum unsere Aufmerksamkeit genauso in Anspruch wie ein realer Raum, den wir betreten.

»Das größte Experiment aller Zeiten«

Der Anteil der Menschen mit Onlinezugang ist zwischen 2000 und 2015 weltweit um das Siebenfache gestiegen: von 6,5 auf 43 Prozent. Das Internet ermöglicht ihnen viele Freiheiten und bietet Informationsfülle sowie Komfort. Doch es hat auch Schattenseiten. Gerade die Schnelllebigkeit der digitalen Welt ruft der Autorin zufolge Desorientierung hervor. Der Versuch, mit dem aktuellen technologischen Wandel Schritt zu halten, bereite vielen Kopfschmerzen, schreibt sie. Die Menschen verlören rasch den Überblick über die technischen Möglichkeiten sowie über die Folgen ihres Handelns und übersähen ethische Probleme.

Die Cyberpsychologin geht unter anderem auf das Suchtpotenzial der neuen Technologien ein, etwa wenn Jugendliche nachts aufwachen und ihre Postings oder E-Mails kontrollieren. Ebenso habe das Sammeln von Likes in »sozialen Netzen« enormen Einfluss auf das Selbstwertgefühl mancher Menschen und berge eine Suchtgefahr. Denn Likes erzeugen einen Belohnungs­effekt im Gehirn und bewirken, dass das Hormon Dopamin ausschüttet wird. Mitunter bringen sich Menschen bei dem Versuch, ein besonders beeindruckendes Selfie zu schießen, sogar in Lebensgefahr. Jedes Jahr ereignen sich deshalb Todesfälle.

Darüber hinaus thematisiert die Autorin, dass die vielen Möglichkeiten und die vermeintliche Ano­nymität des Internets manche Nutzer zu einem Verhalten verleiten, welches viel enthemmter ist im »analogen Leben«. Beispiele hierfür sind das Hochladen unvorteilhafter Selfies oder das Verschicken von Nackt­bildern (»Sexting«) bei Onlineflirts. Geraten diese in falsche Hände, ist der Schaden für den Urheber meist groß, von Mobbing über Erpressung bis zu Suizid.

Weit verbreitet sind Dating-Portale und porno­grafische Plattformen. Davon fühlen sich auch Menschen mit kriminellen und psychopathischen Verhaltensweisen angezogen. Aiken verweist darauf, dass die unkomplizierte, anonyme Kontaktaufnahme über ein Dating-Portal es manchen Mördern bereits erleichtert hat, ihre Opfer zu finden.

Viele der im Buch geschilderten Probleme sind weder unbekannt noch neu. Doch wie Tragödien und Skandale immer wieder zeigen, sind sie nach wie vor hochaktuell und ungelöst. Die Autorin ruft alle Beteiligten zu mehr Verantwortung und besserer Kontrolle auf. Ob und wie sich der von ihr geforderte breite Dialog zwischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in diesem »größten Experiment aller Zeiten« – wie es der klinische Psychologe Michael Seto nennt – umsetzen lässt, erscheint allerdings fraglich.

Bisher seien die Akteure vor allem bemüht, mit der sich rasant entwickelnden Technik mitzuhalten, kritisiert die Psychologin, die als Expertin für Cyberforensik schon Europol und das FBI beraten hat. Dabei bedürfe es genauso großer Anstrengungen, einen breit angelegten gesellschaftlichen Diskurs zu führen. Die Welt des 21. Jahrhunderts vergleicht Aiken mit der historischen Epoche der Aufklärung, die ebenfalls gewaltige Veränderungen in Bewusstsein und Verhalten der Menschen sowie in der Technologie hervorrief. Die Autorin fragt nach der Kontrolle und Pflicht von Unternehmen, Nutzern und Erziehern sowie nach dem Schutz von Kindern vor einem Medium, das für Erwachsene geschaffen wurde. Ob es in den USA, wie die Cyberpsychologin prophezeit, künftig tatsächlich zu Sammelklagen gegen Internetkonzerne wegen der Schädigung von Kindern kommen wird, ist eine spannende Frage.

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