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Betrüger oder Verschwörungsopfer?

War Paul Kammerer ein Fälscher oder ein Verschwörungsopfer? Der umstrittene Biologe forschte vor rund 100 Jahren in Wien. Er behauptete, seine Experimente zeigten, dass erworbene Eigenschaften der Eltern an die nächste Generation weitervererbt werden können. Damit begab er sich mitten in einen Diskurs zwischen Neodarwinisten einerseits, die einen solchen Vererbungsmechanismus verneinten, und Neolamarckisten andererseits, die Darwins Evolutionstheorie in Zweifel zogen. Diese Debatte strahlte weit über die Wissenschaft hinaus und prägte schließlich sogar politisch-ideologische Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Kräften. Nachdem Kammerer der Fälschung an einem seiner Präparate bezichtigt wurde, nahm er sich das Leben.

Noch heute sind die Meinungen über den Biologen geteilt. Manche bezeichnen ihn als Betrüger, andere als "Vater der Epigenetik". Diese Forschungsdisziplin befasst sich mit Faktoren, die Genaktivitäten ändern, ohne dabei in die DNA-Sequenz einzugreifen. Wissenschaftsjournalist Klaus Taschwer rollt die Frage nun im vorliegenden Buch neu auf. Der Soziologe und Politikwissenschaftler erzählt Kammerers Lebensweg von der Geburt bis zum Tod, wobei er sich auf erhalten gebliebene Briefe, Personalakten, Tagebucheinträge, Zeitungsartikel und weitere teils vorher unbekannte Quellen stützt.

Die Welt von gestern

Taschwer geht er auf verschiedene Aspekte ein. Zum einen verfolgt er den wissenschaftlichen Werdegang Kammerers, der bereits als Jugendlicher einen halben Zoo mit Nagern, Alligatoren, tropischen Sumpfschildkröten und anderen exotischen Tieren unterhielt. Zum anderen wirft er einen Blick auf Kammerers Liebesaffären mit bekannten Persönlichkeiten, etwa der mutmaßlichen Kaisertochter Helene Nahowski und Gustav Mahlers Witwe Alma Mahler. Zudem zeichnet der Autor ein lebendiges Bild der Wiener Gesellschaft von den 1880er bis in die 1930er Jahre. Er macht die damals zunehmend antisemitische und nationalistische Stimmung an der Universität Wien greifbar. Es war die Zeit, in der Nationalsozialisten damit begannen, ihre Rassenideologie mit sozialdarwinistischem Gedankengut zu untermauern. In diesem Umfeld begab sich Kammerer – Halbjude, Pazifist und Sozialist – mit seinen unkonventionellen politischen und wissenschaftlichen Äußerungen auf gefährliches Terrain.

Kammerer führte Experimente an Amphibien durch. Er arbeitete unter anderem mit Geburtshelferkröten, die sich normalerweise an Land paaren und dort auch ihren Laich austragen. Der Biologe zwang die Tiere jedoch dazu, durchgehend im Wasser zu leben. Dabei meinte er zu beobachten, dass männliche Individuen als Anpassung an den neuen Lebensraum so genannte Brunstschwielen entwickeln, die sie normalerweise nicht besitzen. Mit diesen verhornten, dunklen Hautstellen an den Vorderextremitäten sollten sich die Tiere bei der Kopulation im Wasser besser festhalten können. Die neu erworbenen Brunstschwielen, so Kammerer, würden dann an die folgenden Generationen vererbt.

Über Tusche gestürzt

Das Präparat einer solchen Geburtshelferkröte wurde Kammerer jedoch zum Verhängnis. Es wies dort, wo sich angeblich die Brunstschwielen befanden, Spuren von Tusche auf. Das nährte den Verdacht, der Biologe habe die dunklen Hautstellen mittels des Einspritzens von Farbe künstlich erzeugt.

Bis heute ist umstritten, ob Kammerer die Veränderungen selbst vorgenommen hat oder ob er einer Verschwörung zum Opfer fiel. Taschwer präsentiert in seinem Buch eine neue These hierzu; er nennt mögliche Verdächtige einer mutmaßlichen Verschwörung beim Namen. Hierbei bringt er Aspekte in die Diskussion ein, die so bisher noch nicht bekannt waren. Dennoch kann auch er die Frage nicht endgültig beantworten.

Alles in allem überzeugt "Der Fall Paul Kammerer" als spannender, leicht verständlicher Sachbuchkrimi. Wer sich für die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit interessiert, kommt auf seine Kosten, zumal Taschwer über viele Intellektuelle berichtet, die Kammerers Lebensweg streiften: Sigmund Freud, Gustav Mahler und Albert Einstein etwa. Einige sachliche Fragen zur Biologie bleiben jedoch offen. So geht der Autor nicht genauer darauf ein, wie wahrscheinlich es aus heutiger Sicht ist, dass Kammerers Experimente tatsächlich so abliefen wie von ihm behauptet. Auch behandelt Taschwer nur am Rande, wo die Epigenetik aktuell steht.

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