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Mein Heim ist meine Burg

Es muss eine unglaubliche Tortur für Zugvögel sein, jedes Jahr auf eine kräftezehrende, gefährliche Reise zu ihren Brut- und Nistplätzen in einem anderen Erdteil aufzubrechen. Albatrosse legen dabei bis zu 1500 Kilometer zurück. Um die Energieversorgung des Körpers hierbei sicherzustellen, werden bei manchen Tieren sogar Muskeln und innere Organe abgebaut. Für viele ist es eine Reise ohne Wiederkehr. Warum nehmen etliche Vogel- und Fischarten diese Strapazen überhaupt auf sich?

Der deutsch-amerikanische Biologe Bernd Heinrich geht dem in seinem neuen Buch nach. Im Mittelpunkt steht für ihn der Heimatbegriff, dem er sich aus biologischer Sicht nähert. Im "Heim" sieht er eine Umgebung, die das Tier ernährt, schützt und ihm die Möglichkeit bietet, ein Nest zur Aufzucht der Jungen zu errichten. Es ist ein Ort, an dem die Fortpflanzung früher erfolgreich war und es wohl auch künftig sein wird. Als "Heimatinstinkt" definiert Heinrich die Fähigkeit, ein geschütztes Zuhause zu suchen und zu erkennen, es den Bedürfnissen anzupassen und mittels Orientierungssinn dorthin zurück zu finden. Meeresschildkröten beispielsweise durchwandern ganze Ozeane – nur um zur Eiablage an den Ort ihrer eigenen Geburt wiederzukehren.

Zwar weiß man heute bereits viel über die Orientierungsfähigkeit solcher Tiere, etwa zur Positionierung im Erdmagnetfeld, am Sonnenstand oder an Landschaftsmerkmalen. Doch manches ist nach wie vor ungeklärt. Heinrich verweist hier auch auf die Rolle von Lernvorgängen. So scheinen junge Kraniche die Flugroute erst von ihren Eltern beigebracht zu bekommen.

Umkämpftes Zuhause

Der auch bei Tieren vorhandene Wunsch, sich ein Heim zu erhalten, führt immer wieder zu tödlichen Kämpfen zwischen oft männlichen Rivalen. Heinrich beschreibt ein von Zugvögeln bekanntes Phänomen: Bei manchen Arten ziehen so genannte Springer mit. Diese Individuen haben es darauf abgesehen, anderen das Revier streitig zu machen. Ein solcher Angreifer kann, wenn er erfolgreich ist, viel gewinnen – während der Verteidiger, der ihm unterliegt, alles verliert. Denn der Sieger übernimmt nicht nur das Revier, sondern oft auch das Weibchen. Die Chancen, ein neues Heim zu finden, stehen für den Verlierer schlecht.

Heinrich behandelt auch Tierarten, die zwar keinen Wandertrieb, aber dennoch ein Revier- und Nestbauverhalten zeigen. Auch bei ihnen lässt sich ein Heimatinstinkt erkennen. Säuger, Spinnen, Krebse, Reptilien und Fische bauen Nester und haben dazu eine erstaunliche Bandbreite an Techniken entwickelt. Sie graben Höhlen, schichten Stöcke, Steine oder Fasern auf und verkleben diese mit Seide, Schlamm, Kot oder Speichel. Termiten errichten ganze Städte imposanten Ausmaßes. Die Hügel einiger Arten können bis zu sieben Meter hoch werden und Millionen Artgenossen ein Zuhause bieten. Wie Heinrich beschreibt, legen manche Ameisenarten sogar "Nutzgärten" mit Pilzkulturen und melkbaren Blattläusen an.

Homo domesticus

Sollten die Leser in diesen Darstellungen ansatzweise ihr eigenes Verhalten wiedererkennen, so ist das kein Zufall. Denn auch der Mensch stammt aus dem Tierreich und besitzt laut dem Autor einen ausgeprägten Heimatinstinkt. Um dies plastisch vorzuführen, wählt Heinrich einen sehr persönlichen Ansatz und beschreibt seine eigene Rückkehr vom Arbeitsort in Vermont in die Heimat seiner Kindheit nach Maine (beide USA). Diese Vorgehensweise ist mutig, da solch "menschelnder" Stil im Rahmen eines populärwissenschaftlichen Sachbuchs eher unüblich ist.

Doch hier zeigt sich auch die Schwierigkeit des Themas. Zwar ist es aus biologischer Sicht durchaus sinnvoll, den Menschen in die Darstellung einzubeziehen. Doch wird sie dadurch stark anthropozentrisch gefärbt. Man fragt sich, ob der Autor das bei Tieren beobachtbare Revier- und Wanderverhalten nicht unzulässig auf den menschlichen Heimat-Begriff projiziert. Heimat ist ein schwieriges und umstrittenes Wort. Seine philosophischen und soziologischen Implikationen gehen über biologisches Verhalten weit hinaus. Dennoch zeigt Heinrichs Buch, dass es im menschlichen Verhalten eine nicht zu vernachlässigende biologische Komponente gibt, die den Umgang mit dem Begriff nicht gerade vereinfacht.

Das gut lesbare Buch richtet sich an zwei Zielgruppen: An Leser, die das Phänomen der Tierwanderungen und des teils sehr hoch entwickelten Nestbaus spannend finden. Aber auch an solche, die sich für menschliches Verhalten interessieren. Das Werk fordert in jedem Fall zum kritischen Nachdenken heraus.

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