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Buchkritik zu »Der Mathe-Instinkt«

Dieses Buch behandelt zwei Themenbereiche, die an sich so gut wie nichts miteinander zu tun haben. Keith Devlin dagegen, Mathematikprofessor in Stanford (Kalifornien) und Autor zahlreicher populärer Werke über Mathematik, behauptet, sie seien im Wesentlichen dasselbe. Das durchzuhalten gelingt ihm nur mit einem sehr merkwürdigen Verständnis von mathematischer Tätigkeit. Liest man allerdings über diesen fundamentalen Fehler hinweg, findet man viele zum Teil sehr erstaunliche Tatsachen und Denkanstöße.

Das erste Thema, das etwas mehr als die Hälfte des Buchs ausmacht, lautet: Tiere lösen gewisse mathematische Probleme, zum Teil ausgesprochen schwierige. Ein Hund namens Elvis holt einen Ball aus dem Wasser, den sein Herr nicht senkrecht zur Uferlinie, sondern schräg hineingeworfen hat. Nun springt der Hund nicht in gerader Linie auf den Ball zu; er rennt ein Stück am Ufer entlang und geht dann ins Wasser, und zwar nicht etwa dort, wo er am Ufer dem Ball am nächsten ist, sondern ein wenig vorher.

Auf diese Weise wählt der Hund nicht die kürzeste, sondern die schnellste Strecke aus, um den Ball aus dem Wasser zu holen. Nachmessen zeigt, dass der Hund ziemlich gut darin ist, diesen optimalen Weg abzuschätzen. Aber folgt daraus, dass der Hund das Minimierungsproblem löst, das diese Aufgabe – mathematisch gesehen – ja ist? Dass er die Nullstelle der Ableitung einer quadratischen Funktion berechnet? Diese Schlussfolgerung geht mir eindeutig zu weit.

An verschiedenen Stellen im Buch relativiert der Autor selbst diesen sehr drastischen Standpunkt. Es bleibt aber die Tatsache, dass der Hund recht genau schätzen kann, was der schnellste Weg ist. So wie wir schätzen können, wie wir einen Ball werfen müssen, um ein bestimmtes Ziel zu treffen. Mit einiger Übung, versteht sich. Und nicht, indem wir eine komplizierte mathematische Aufgabe berechnen! Schade, dass Devlin dieses Beispiel in seinem Buch nicht bringt.

Pflanzen verhalten sich in ihrem Wachstum nach gewissen Regeln, die man mathematisch beschreiben kann. Ebenso Schneckenhäuser, und es gibt noch viel mehr Beispiele. Aber berechnet eine Sonnenblume Fibonacci-Zahlen, wenn ihre Kerne wachsen? Oder berechnet eine Schnecke Logarithmen? Wohl kaum. Viele Sachverhalte in der Natur lassen sich durch mathematische Gleichungen beschreiben, und es ist sehr berechtigt, die faszinierenden Lösungen, welche die Evolution gefunden hat, zu bewundern. Damit kann aber nicht gesagt werden, dass die Natur Mathematik betreibt.

Wie kommt Devlin eigentlich zu diesem Fehlschluss? In einem kleinen Satz passiert es: Wir treiben Mathematik, indem wir bewusst über bestimmte Dinge nachdenken. Nehmen wir einen Taschenrechner oder einen Computer zu Hilfe, so treiben wir immer noch Mathematik. Achtung, jetzt kommt’s: "In vielen Fällen können wir uns sogar mit der Behauptung abfinden, der Taschenrechner oder Computer betreibe die Mathematik." Der Rest des falschen Schlusses geht ganz schnell: Was wir einer Maschine zubilligen, das werden wir doch wohl auch einem lebenden Wesen wie unserer Hauskatze zugestehen?

Nur: Was ist mit einem kosmischen Gesteinsbrocken? Der findet auch seinen Weg durchs All, den das Gravitationsgesetz ihm vorschreibt. Aber kein Mensch würde dem Stück Stein die Fähigkeit zuschreiben, die zugehörigen Differenzialgleichungen zu lösen. Aber was Devlin uns aus der Tier- und Pflanzenwelt berichtet, wird durch das falsche Etikett um keinen Deut weniger interessant. Die Orientierungsleistungen der Ameisen, Bienen, Langusten oder auch Zugvögel und Schmetterlinge sind mehr als erstaunlich. Fellmusterungen von Raubkatzen, die erwähnten Fibonacci-Zahlen, wie man sie an etlichen Pflanzensorten finden kann, und viele andere Dinge werden schön beschrieben und erklärt. Manche Erkenntnisse in diesen Bereichen sind erst wenige Jahre alt; hier ist das Buch durchaus aktuell, auch wenn viele der Beispiele schon lange in der einschlägigen Literatur zu finden sind.

Im zweiten Teil geht es dann darum, wie ein Mensch rechnet. Hier hat Devlin uns einige handfeste Überaschungen zu bieten. Es beginnt mit Forschungsergebnissen über die angeborenen oder in den ersten Lebenswochen erworbenen Zahlenfähigkeiten, einschließlich der zugehörigen Forschungsmethode. Schließlich kann man ein wenige Wochen altes Baby nicht fragen, ob es zwischen 1 und 2 und viele einen Unterschied macht. Jedenfalls wissen diese Kleinen schon, dass 1+1=2 ist und nicht viele, und dass noch 1 übrig bleibt, wenn man von 2 wieder 1 wegnimmt.

Weiter geht es mit dem, was der Autor Straßenmathematik nennt. Die Kinder, die auf den Straßenmärkten in Südamerika Waren verkaufen, können auch ohne oder fast ohne Schulbildung sehr wohl ausrechnen, was ein Kunde zu zahlen hat und wie viel Geld er zurückbekommt. Allerdings rechnen diese Kinder ganz anders, als man es in der Schule lernt! Stellt man ihnen genau dieselben Aufgaben wie auf dem Markt in Form einer Mathematikarbeit, so versagen sie völlig, weil sie ihre Straßenmathematik nicht auf die Schulaufgaben übertragen können und damit auf die Rechenregeln angewiesen sind, die sie (vielleicht) in der Schule gelernt, aber nicht verstanden haben.

Angeregt durch diese Beobachtungen, hat man ähnliche Experimente auch in den USA gemacht, indem man Leute beim Einkaufen im Supermarkt beobachtete. Hier besteht ein häufiges Problem darin, Preise bei unterschiedlichen Packungsgrößen zu vergleichen. Stehen verschiedene Füllmengen zu verschiedenen Preisen zur Auswahl, muss man einen Dreisatz anwenden. Hier ist es wieder ganz ähnlich: Die Leute konnten mit großer Sicherheit die günstigeren Produkte auswählen, aber dasselbe Problem als Rechenaufgabe kaum lösen.

Leider sagt Devlin nichts darüber, wie man diese Erkenntnisse in den Schulunterricht einbauen müsste, damit die Leute vielleicht einen besseren Zugang zur Mathematik bekommen könnten oder die in der Schule gelernten Regeln auch im Alltag anwendbar würden. Insofern bleibt die ganze Geschichte ein bisschen offen, Platz genug zum Nachdenken also.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 7/2006

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