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»Der neue Gott«: Die Religion der künstlichen Intelligenz

Allmacht, Allwissenheit, Omnipräsenz: Künstliche Intelligenz entwickelt Eigenschaften, die Religionen bisher ihrem Gott zuschrieben. Das belegt Claudia Paganini.

Was hat Religion mit künstlicher Intelligenz zu tun? Kann man sie miteinander vergleichen? Darf man das? In der Tat ist der Titel des Buchs von Claudia Paganini, Philosophin und Theologin, ernst gemeint. Aber ist es nicht Häresie, wenn die KI als »Der neue Gott« die Rolle spielen soll, die bisher die Religion ausfüllte?

Die neun Kapitel des Buchs sind jeweils zweigeteilt. Paganini stellt zunächst einen zentralen theologischen Begriff dar, der gemeinhin der Göttlichkeit als Eigenschaft zugeschrieben wird. Dann setzt sie diesen in Beziehung zur KI beziehungsweise dem aktuell gängigen Verständnis von künstlicher Intelligenz. Daraus ergeben sich Fragen wie: Hat die KI einen transzendenten Charakter? Ist sie allwissend und allmächtig? Stiftet sie Lebenssinn, wie Religionen es über den Gottesbegriff tun? Ist KI allgegenwärtig? Zunächst bietet der theologische Teil des jeweiligen Kapitels eine hochinformative kleine Religionsgeschichte des fraglichen Begriffs. So wird rekonstruiert, wie sich der jüdische Monotheismus langsam gegen den in der Antike herrschenden Polytheismus durchgesetzt und dann im Christentum und im Islam weltweit verbreitet hat. Sein Grundprinzip formuliert das erste Gebot: »Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«

Ähnlich verdrängend wirken heute bereits einige KI-Anwendungen – und zwar nicht nur gegenüber traditionellen Kulturgütern wie dem Buch oder lebendigen Personen. Darin setzt sich eine Entwicklung fort, die sich mit Blick auf die digitale Kommunikation schon länger abgezeichnet hatte. So ergaben Meinungsumfragen, dass für 30 Prozent der Befragten das Smartphone wichtiger ist als Freunde und Familie und sich 50 Prozent ein Leben ohne besagtes Gerät nicht vorstellen können, ein Leben ohne Sex aber schon. Die Folgen von KI-Modellen dürften noch viel weit reichender sein; zumal sie nicht »nur« (wie das Smartphone) analoge Verhaltensweisen verdrängen dürften, sondern auch untereinander konkurrieren. Besonders gefährlich könnte es werden, wenn ein System oder ein Anbieter die anderen verdrängt – wie seinerzeit das monotheistische Christentum den antiken Polytheismus.

Allgegenwärtig und allwissend

Solange es noch verschiedene KI-Modelle gibt, gleicht die Situation eher der im Polytheismus als im Monotheismus. So schreibt Paganini: »Glaubte man in den polytheistischen Religionen an ein Netzwerk von Göttern, das alle Bereiche der Wirklichkeit durchdringt, kann man Künstliche Intelligenz analog als ein Netzwerk verschiedener Anwendungen und Systeme sehen, die zusammengenommen eine quasi allumfassende Präsenz schaffen.«

Die Vorstellung, der zufolge Gott allgegenwärtig ist, dabei einerseits die Gedanken eines jeden kontrolliert und andererseits auch jedem hilft, setzte sich historisch erst langsam durch. Ähnlich wirkt heute die Präsenz künstlicher Intelligenz: Sie ist überall und für jeden verfügbar, antwortet sogar auf Fragen nach dem Sinn des Lebens oder weist einem den richtigen Weg. Das kann sie nur, weil sie weiß, wo man ist, womöglich auch, was man tut, und gar, was man denkt – wie der allgegenwärtige Gott.

Im antiken Polytheismus war das Wissen der Götter spezialisiert, waren sie jeweils für bestimmte Bereiche zuständig. Im Monotheismus sieht Gott alles und weiß auch über die Zukunft Bescheid. KI-Systeme greifen auf das gesamte im Internet verfügbare Wissen zurück und sind insofern allwissend. Die Teilhabe der Einzelnen an dem Erkenntnisprozess erfolgt über das Bereitstellen von Daten oder die Kommunikation mit KI-Modellen. Auch ein Äquivalent zur göttlichen Vorsehung gibt es: Ob an der Börse oder in der medizinischen Diagnostik – die entsprechenden KI-Programme präsentieren auch zukünftiges Geschehen.

Ob KI gleichermaßen allen Menschen hilft, wie sich die Götter um diese sorgen –beides lässt sich hinterfragen. Wer vermögend ist, hat jedenfalls in beiden Kontexten erfahrungsgemäß größere Chancen, Wohltaten zu erfahren. So können reiche Staaten sich mehr KI-Anwendungen leisten als arme. Diese spielen übrigens im Krieg tendenziell eine noch größere Rolle als im Frieden – wie auch die Religionen.

Gott ist in den Monotheismen allmächtig. Wenn das irgendwann auf die KI zutreffen sollte, wie viele dies befürchten, könnte sie die Menschen unterjochen, ja am Ende die ganze Menschheit untergehen lassen. Die Apokalypse ist freilich eine originär christliche Vorstellung. Sollte die KI dagegen das Leben erheblich erleichtern, werden davon vor allem jene profitieren, die sich ihr anpassen; so wie auch die Religionen von ihren Gläubigen verlangen, ihre moralischen Regeln zu befolgen.

Manchem mag grundsätzlich missfallen, dass Paganini die KI aus religiösem Blickwinkel betrachtet. Doch vermag sie so aufzuzeigen, dass viele Hoffnungen auf die KI oder das, was man unter ihr versteht, einen religiösen Hintergrund haben. Insofern kehrt die Religion tatsächlich in der KI wieder, avanciert gar zu einem neuen Gott und realisiert keinesfalls bloß ein neues naturwissenschaftliches Denken. So erhellt das Buch grundlegende Zusammenhänge in einer aktuellen Debatte und lässt sich obendrein leicht lesen. Empfehlenswert.

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