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In bester Kaffeehauskultur

Es gibt wohl kaum ein Philosophie-Sachbuch, das mit dem Bild eines Kaffeekränzchens auf dem Cover aufwartet. Das vorliegende Werk tut es, und zwar aus gutem Grund. Zum einen handelt es sich nicht um eine Philosophiegeschichte im klassischen Sinn. Diese liegt bezüglich des Wiener Kreises – jener Wissenschaftlergruppe, die sich von 1924 bis 1936 regelmäßig in Wien traf – bereits in zweiter Auflage von Friedrich Stadler vor und besitzt alle wünschenswerte Präzision. Vielmehr versammelt das Buch kurze erläuternde Texte, Zitate und Dokumente (Bilder, Briefe, Buchexzerpte, Zeitungsausschnitte, Grafiken und Ähnliches, großteils bisher unveröffentlicht) zur Geschichte des Wiener Kreises. Das Werk überspannt ein großes Themenfeld, von den Anfängen bis zum Ende der Gruppe in Wien sowie ihrer Wiedergeburt in der angelsächsischen Welt.

Hervorgegangen aus der weltweit ersten Ausstellung über den Wiener Kreis, ergänzt der Band die genannte philosophiegeschichtliche Studie Stadlers. Das Bild auf dem Cover zeigt die Philosophen Herbert Feigl (1902-1988) und Rudolf Carnap (1891-1970) im Jahr 1929 nebst Gästen im Lainzer Tiergarten. Damit gibt es etwas vom Geist des Wiener Kreises wieder, kann man diesen doch mit einigem Recht als Produkt der Wieder Kaffeehauskultur betrachten. Das Buch stellt die philosophischen Ansätze der Gruppe in den größeren Zusammenhang der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Politikgeschichte; selbst die Beziehungen zur zeitgenössischen Literatur werden thematisiert. Als Leser erfährt man überrascht, dass Literaten wie Bertold Brecht (1898-1956), Robert Musil (1880-1942) und Ingeborg Bachmann (1926-1973) mit dem Wiener Kreis verbunden waren. Dokumentiert werden auch die Kontakte der Wissenschaftlergruppe zur revolutionären Architektur des Bauhauses.

Weltauffassung und Weltanschauung

Angeregt von Studenten (!) gründete der Physiker und Philosoph Moritz Schlick (1882-1936) den Wiener Kreis. Dessen Werdegang rekonstruiert der Band in drei Phasen: 1924-1929, 1929-1931 sowie 1931-1936, jenem Jahr, in dem Schlick ermordet wurde und dem der Niedergang der Gruppe bis zu ihrer Auflösung 1938 folgte. Hervorgehoben wird der Einfluss des Philosophen und Architekten Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Öffentlich trat die Gruppe ab 1929 mit der Programmschrift "Wissenschaftliche Weltauffassung" in Erscheinung. Diese stellte das philosophische Profil der Teilnehmer dar; ihr Titel sollte bewusst von den damaligen Kämpfen um "Weltanschauung" abgrenzen. Auch auf den parallel wirkenden Kreis des Mathematischen Kolloquiums unter Leitung von Karl Menger (1902-1985), in dem der Logiker Kurt Gödel mitwirkte, geht der Band ein.

Sehr genau zeichnet das Buch die wechselnden Teilnehmer, Themen und Kontroversen des Wiener Kreises in seinen unterschiedlichen Phasen nach. Im Fokus steht die frühe Internationalisierung mit Kontakten nach Europa, Amerika und China. Hier ist allerdings zu beanstanden, dass die – wenn auch sehr lockeren – Kontakte zur holländischen Bewegung der Significs, die sich mit ähnlichen sprachanalytischen Problemen und mathematischen Grundlagenfragen beschäftigte, keine Erwähnung finden. Zu bedauern ist das insofern, als es gerade der Besuch deren Mitglieds Luitzen E. J. Brouwer in Wien war, der Wittgensteins Rückkehr zur Philosophie einleitete.

Im Visier von Rechtskonservativen

Jeder Teilnehmer wird einzeln in seinem Werdegang, seiner philosophischen Ausrichtung und auch seinem persönlichen Schicksal in Text und Bild gewürdigt. Dabei ist es interessant zu erfahren, dass sich der Wiener Kreis neben seinem hohen akademischen Niveau auch durch sein politisch volksbildnerisches Engagement auszeichnete, vorangetrieben vor allem von dem unermüdlichen Nationalökonomen Otto Neurath (1882-1945). Hieran entschied sich denn auch das Schicksal der Gruppe. Wie aus dem Band hervorgeht, gerieten die Mitglieder zunehmend unter den Druck antisemitischer, rechtskonservativ-klerikaler und völkischer Kreise innerhalb und außerhalb der Universität. Dies führte dazu, dass die meisten spätestens nach der Ermordung Schlicks emigrierten, vor allem in die angelsächsische Welt, und dort den logischen Empirismus zur heute dominierenden Wissenschaftsphilosophie und analytischen Philosophie weiterentwickelten.

Das Buch lässt dank reichen Quellenmaterials und aufschlussreich nachgezeichneter Schicksale Philosophiegeschichte lebendig werden – einschließlich Kaffeekränzchen.

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