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Buchkritik zu »Der Zahlen gigantische Schatten«

Religion, Musik, Kalender, Astronomie, Zahlsysteme, Algorithmen, Statistik, Quantenphysik und Transzendenz: Rudolf Taschner, Professor am Institut für Analysis und Scientific Computing der Technischen Universität Wien, führt uns ein Kaleidoskop vor. Fassettenreich, bunt, schillernd, mit jeder Änderung der Perspektive eine neue Gestalt annehmend gewährt das Buch Einblicke in die faszinierende Vielfalt unseres Umgangs mit der Zahl. Mit dem Kaleidoskop teilt der Text auch die – gewollte und wohl auch dem Charakter angemessene – Beschränkung auf die Schau fantasievoller, in all ihrer Komplexität doch überaus geordneter Muster, die dem Auge wohlgefällig sind, aber über den Effekt hinaus nur begrenzte Einblicke gestatten.

Für jedes der acht Kapitel hat Taschner eine historische Person gewählt, die für das Thema einen Leitgedanken vorgibt. Allgemein gibt er Beiträgen, Ansichten und Haltungen bedeutender Wissenschaftler breiten Raum. Das Verständnis komplexer Theorien erleichtert er durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Prozess ihrer Entstehung. Gelungen erscheinen die Kapitel "Hofmannsthal: Zahl und Zeit" mit den Hauptthemen Zeitmessung und Kalendersysteme, "Descartes: Zahl und Raum", der das Messen von Längen und Flächen, Karten und Koordinaten behandelt, "Laplace: Zahl und Politik", in dem Wahrscheinlichkeiten und Statistiken, wie sie uns täglich als Argument für oder gegen gewisse Entscheidungen begegnen, kritisch betrachtet werden, und "Pascal: Zahl und Geist", in dem es um die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Denkens geht.

Das Kapitel "Leibniz: Zahl und Logik" erläutert sehr anschaulich unterschiedliche Systeme zur Darstellung von Zahlen, speziell das binäre, das in Computern eine entscheidende Rolle spielt. Wer sich auf logische Strenge und die formale Beschreibung von Computern und ihrer Vorgehensweise einzulassen bereit ist, wird zu den mathematisch und philosophisch bedeutenden Resultaten von Kurt Gödel und Alan Turing geführt. Weniger gelungen ist dagegen "Bach: Zahl und Musik". Es ist richtig, Johann Sebastian Bach hat in etlichen seiner Werke Zahlensymbolik betrieben; Taschners Spekulationen gehen aber wohl doch zu weit. Der Autor unterscheidet nicht klar zwischen den hörbaren Tönen und ihren Beziehungen einerseits und deren mathematischen Modellen andererseits. So kann man durchaus mit einer gewissen Berechtigung die Töne der chromatischen Skala in ein zweidimensionales Schema bringen, dessen Achsen von der Quint und der großen Terz aufgespannt werden. Es ist jedoch Unfug, deshalb die Musik "zweidimensional" zu nennen und zu behaupten, dass "Musik genau genommen unendlichdimensional" sei.

"Bohr: Zahl und Materie" beginnt mit einer gut lesbaren Schilderung wichtiger Abschnitte der Entstehung der Quantenphysik. Die Entdeckung des Bildungsgesetzes für die Spektrallinien des Wasserstoffatoms durch Johann Balmer (1825 – 1898) ist eine historisch interessante Anekdote, deren mathematischer Gehalt leicht zu vermitteln ist. Aber es wäre dem Thema eher angemessen gewesen, hätte Taschner die Beziehungen zwischen Wellenmodell, statistischer Interpretation und Superpositionsprinzip einerseits und der Erweiterung des Zahlbegriffs auf die komplexen Zahlen andererseits behandelt.

Das Buch enthält viele, überwiegend sehr schöne Abbildungen. Einige davon sind nicht klar genug erläutert oder in den Text eingebunden. Höchst unerfreulich ist die Entscheidung, dem 175 Seiten umfassenden Text insgesamt 163, zum Teil sehr lange Anmerkungen auf weiteren 27 Seiten hinzuzufügen. Die Lesbarkeit des Textes würde sicher deutlich verbessert, wenn die kürzeren in die Form von Fußnoten gebracht und die längeren inhaltlich in den eigentlichen Text aufgenommen würden. Ein Index, den ich schmerzlich vermisst habe, ist in der 2. Auflage hinzugefügt worden. Aber nach wie vor fehlen jegliche Literaturangaben, die dem angeregten Leser vertiefende Diskussionen vermitteln könnten.

Insgesamt bleibt der Eindruck, dass der Autor sich sehr viel vorgenommen hat und dann doch zu kurz gesprungen ist. Ungenauigkeiten und ungeschickte Formulierungen ziehen sich durch das ganze Werk; einige Behauptungen, die mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit vorgetragen werden, sind doch eher Hypothesen, deren Tragfähigkeit sich erst noch erweisen muss. Und was den Autor dazu veranlasst hat, in seiner unsäglichen Anmerkung 59 den Verfechtern der künstlichen Intelligenz den "Vernichtungswahn der Hitlerei" zu unterstellen und bei der Gelegenheit auch Konrad Lorenz – der sich in der Tat zum Nationalsozialismus bekannt hat – in denselben Topf zu werfen, bleibt sein Geheimnis. Der Kontext war es nicht; denn es ging darum, wie winzig klein der Mensch sich gegenüber den riesigen Weiten des Weltraums fühlt.

Man kommt mit diesem Buch nicht, wie im Text auf der Buchrückseite behauptet, "unversehens zu überraschenden, zu verwirrenden Einsichten über die Welt, die, wenn man sie zu Ende zu denken wagt, alle von der gängigen Science Fiction dargebotenen Hypothesen und Szenarien locker überbieten". Es enthält auch keine Geheimnisse, keine Sensationen, keine im philosophischen Sinn tiefere Bedeutung der Zahlen. Es ist ein hübsches, zum Teil sehr gefälliges, vielgestaltiges Kaleidoskop zu einem reichhaltigen Thema – aber eben nicht mehr. Mit etwas mehr Sorgfalt und Zurückhaltung wäre es vielleicht sogar ein richtig gutes Buch geworden.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2006

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