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»Diamantnächte«: Von Selbsttäuschung und Selbstliebe

Die Protagonistin in Hilde Rød-Larsens Roman »Diamantnächte« möchte von anderen gesehen werden. Dafür muss sie aber zuerst lernen, sich selbst zu erkennen. Ein Buch, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.
Eine Frau kniet vor einem Spiegel und streckt die Hand nach ihrem Spiegelbild aus.

Die Handlung des Romans der norwegischen Lektorin und Übersetzerin Hilde Rød-Larsen ist schnell erzählt: Im ersten Semester ihres Studiums in London lernt die junge Norwegerin Agnete ihre Mitstudentin Jenny kennen, die sie mit ihrer selbstsicheren Art anzieht. Sie verbringt immer mehr Zeit mit Jenny und später auch mit deren Vater, mit dem sie schließlich ein Verhältnis beginnt. Viele Jahre später blickt Agnete zurück und erzählt ihre Geschichte – meist, aber nicht durchgehend aus der Ich-Perspektive. Der Anlass dafür: Ihr fallen ohne offensichtlichen Grund die Haare aus, was für sie ein Zeichen für einen unterdrückten Konflikt darstellt. Da die Ich-Erzählerin immer wieder betont, dass sie ihre Geschichte erzählen muss, obwohl es ihr schwerfällt, stellt man sich beim Lesen auf ein traumatisches Ereignis ein, das in dieser Form aber nicht deutlich zu Tage tritt. Mit der Zeit verdichten sich die Hinweise darauf, dass sich die heimliche Beziehung mit Jennys Vater Christoph für Agnete als toxisch erweist.

Der Schlüssel zu Agnetes innerem Konflikt lässt sich vermutlich mit dem Begriff »Selbstbetrug« am besten beschreiben. Denn auch wenn sie die Affäre mit Christoph freiwillig begonnen und über Jahre gepflegt hat, hat Agnete vom deutlich älteren Mann mehr oder zumindest etwas anderes erwartet, als er ihr zu geben bereit ist. So wünscht sie sich, dass er, der Psychiater, sie »sieht«, und zwar konkret, dass er sieht, dass es ihr nicht gut geht. Die Frage »Wie geht es dir?« wird zum Schlüssel ihrer Beziehung, die sich für Christoph bald nur noch um Sex dreht. Als Agnete merkt, dass die Beziehung nur seine Bedürfnisse befriedigt, erzählt sie sich selbst eine Geschichte, um dies zu überdecken. Dies scheint ihr gängiges Verhaltensmuster zu sein: Sie erzählt sich Geschichten über sich selbst, um nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu täuschen.

Eine Geschichte, verschiedene Perspektiven

Wohl um eine gewisse Distanz zur Handlung aufzubauen, wird Agnetes Geschichte in drei verschiedenen Versionen erzählt, die sich allerdings nur in der Perspektive und in den Namen der Protagonisten unterscheiden. Während also im ersten Teil Agnete als Ich-Erzählerin auftritt, heißt sie im zweiten Teil Marianne, aus Christoph wird Alexander. Im dritten Teil kehrt Agnete als Ich-Erzählerin zurück, Christoph wird zu »C.«. Dennoch erzählen alle drei Teile dieselbe Geschichte und vergeben damit die Chance, durch den Perspektivwechsel Zusammenhänge aufzudecken, die der Ich-Erzählerin verborgen bleiben. Auch bleibt unklar, ob die Geschichte autobiografisch ist, denn Rød-Larsen leiht Agnete einen Teil ihres eigenen Lebenslaufs.

»Diamantnächte« ist ein Buch, das sich unwahrscheinlich leicht und – durch die teils sehr kurzen Kapitel – auch sehr schnell liest. Allerdings wirft es mehr Fragen auf, als es beantwortet. Vieles scheint belanglos und wird wie nebenbei erzählt. Die Leser bleiben dabei aber immer mit dem Gefühl zurück, dass gerade diese leicht hingesagten Dinge eine tiefere Bedeutung haben könnten, die sie vielleicht nicht richtig verstehen. So wird letztlich nicht klar, was das Buch eigentlich erzählen möchte. Agnetes Gefühle und Wünsche bleiben weitgehend unsichtbar. Sie möchte gesehen werden, tut aber gleichzeitig alles dafür, Fragen nicht ehrlich zu beantworten und niemandem Einblick in ihr Gefühlsleben gewähren zu müssen. Auch interessiert sie sich selbst nicht wirklich für ihre Mitmenschen, wie ihre Beziehung zu Jenny zeigt. Um die Kontrolle über das eigene Leben und den eigenen Körper zu behalten, wendet Agnete verschiedenste Methoden an – von einer Gesprächsführung, bei der nur sie Fragen stellen darf, über konsequentes Hungern bis hin zu Selbstverletzung.

Am Ende verharrt die Geschichte im Ungewissen, entwickelt keine echte Tiefe. Die Personen bleiben seltsam flach, und Agnetes Verhalten ist oft nicht nachvollziehbar, auch weil innere Monologe weitgehend fehlen. So bleibt sie in der Geschichte genauso unsichtbar wie offensichtlich in ihrem Leben. Erst spät bekommt man eine Ahnung davon, dass es in »Diamantnächte« um Selbstliebe gehen könnte und dass Agnete dies für sich selbst erkennt. In Analogie zu einer Malariatherapie, mit der sie sich von dem »Parasiten befreit«, scheint sie sich irgendwann von C. zu lösen – allerdings erst nach seinem Tod, so dass es sich eher um eine Art inneres Loslassen handelt. Der Leser bleibt ein wenig hilflos zurück und fragt sich, ob er das Buch wirklich verstanden hat. Gerade dadurch lädt es aber dazu ein, mit anderen über das Gelesene zu sprechen und so vielleicht zu verstehen, was im Roman selbst unklar bleibt.

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