»Die 42 größten Rätsel der Astronomie«: Ein Leuchtturm im Bücherregal
Ob es sich tatsächlich um die 42 »größten« Rätsel der Astronomie handelt, darüber lässt sich natürlich streiten. Sicher ist: Ilja Bohnet hat eine gelungene Auswahl spannender Rätsel aus den Bereichen Astronomie, Astrophysik und Kosmologie getroffen, die Vielfalt, Aktualität und Lebendigkeit der astronomischen Forschung widerspiegeln.
Der Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät, um welche Themenbereiche es konkret geht: Sonnensystem, Exoplaneten, Sterne, Schwarze Löcher, Galaxien und das Universum als solches. Jedes dieser sechs Themenfelder ist mit vier bis zehn Rätseln vertreten – jeweils als Frage formuliert und auf im Schnitt etwa fünf Buchseiten erläutert. Genau die richtige Portion für ein »Rätsel zwischendurch«.
Das inhaltliche Spektrum der Rätselfragen ist weit gefächert: vom allgemeinen Interesse (wie bei Frage 19: »Was ist im Innern eines Schwarzen Lochs?«) über fachspezifische Fragen (zum Beispiel Frage 28: »Wie entstehen FRBs?«) bis hin zu schon fast philosophischen Fragestellungen (etwa in Frage 42: »Gibt es eine Antwort auf die Fragen nach allem?«). Lösungen gibt es erwartungsgemäß keine – schließlich handelt es sich um bis heute ungelöste Rätsel –, dafür aber Einblicke in vergangene, aktuelle und künftige Experimente, mit denen die Wissenschaft nach Antworten sucht. Und das sind viele! Allein die Anzahl der in diesem Buch erwähnten Forschungsanlagen, Messgeräte und Sonden mit so fantasiereichen Namen wie »4MOST«, »MADMAX« oder »OSIRIS-REx« übersteigt die Einhundertermarke!
Anstatt sich allein mit all diesen Rätseln auseinanderzusetzen, unterbreitet Bohnet sie – wie schon in Die 42 größten Rätsel der Physik – etwas mehr als zwei Dutzend führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den jeweiligen Fachdisziplinen, die meisten von ihnen aus der deutschen Forschungslandschaft. Ihre Antworten fließen in Form von Zitaten in Bohnets Texte ein – ein stimmiges Konzept, denn auf diese Weise sind die Texte inhaltlich topaktuell und außerdem abwechslungsreich. Ein nettes Detail: An manchen Stellen lässt Bohnet sogar Emotionen seiner Interviewpartner durchklingen.
Um seine Leserschaft entsprechend einzustimmen, unternimmt der Autor zu Beginn des Buchs einen lesenswerten Streifzug durch die Geschichte der Astronomie: Es geht entlang verschiedener Weltbilder, Rätsel und ihrer Deutungsversuche über die naturwissenschaftlichen Meilensteine des 20. Jahrhunderts bis hin zum heutigen kosmologischen Weltbild.
Es folgen die sechs Themenbereiche, jeweils eingeleitet durch eine ausführliche Einführung, an die sich dann die dazugehörigen Rätselfragen anschließen. Diese hat Bohnet jeweils mit Untertiteln präzisiert, etwa Frage 16 »Backen Neutronensterne schwere Elemente? – Woher das Gold dieser Welt stammt«. So wird bereits ein kleiner, neugierig machender Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung es denn nun geht.
Wie bereits angedeutet, können alle 42 Rätsel durchaus auch unabhängig voneinander gelesen werden, ohne dass dabei der Eindruck eines reinen Fragenkatalogs entsteht. Dafür sorgen die wiederkehrenden Vorstellungen der Interviewpartnerinnen und -partner sowie zahlreiche themenübergreifende Querverweise zu anderen Rätseln innerhalb des Buchs.
Wie steht es um die »Antworten«?
Die Leserinnen und Leser erfahren inhaltlich unglaublich viel Neues, und Bohnet gelingt es fast durchgängig, bei allen Rätseln einen Spannungsbogen aufzubauen und aufrechtzuhalten. Man ist tatsächlich an vielen Stellen neugierig zu erfahren, welche Forschungsergebnisse die nächsten Jahre wohl bringen werden. Besonders gut haben mir auch immer wieder die Bezüge zu den Entdeckungen und Beiträgen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus früheren Jahrhunderten gefallen. Sie verdeutlichen, dass Erkenntnisgewinn in der Naturwissenschaft ein Prozess ist, der von vielen getragen wird. Sprachlich ist das Buch präzise und abwechslungsreich verfasst. Manche Formulierungen laden sogar auch etwas zum Schmunzeln ein, wenn etwa vom »Mirakel der Sterne« oder einem »furiosen Universum« die Rede ist. Die Bebilderung ist mit meist einer Abbildung pro Frage dezent und ausdrucksstark.Für wen ist das Buch geeignet?
Die Zielgruppe des Buchs dürfte primär eine eher physikalisch beziehungsweise astronomisch vorgebildete Leserschaft sein, obwohl ich wegen des Buchtitels (die Zahl 42 stellt einen Bezug zu Douglas Adams‘ Klassiker »Per Anhalter durch die Galaxis« her) und den Erläuterungen einfacher Begriffe wie »Epizykel« oder »Ellipse« zu Beginn des Buchs doch auch an astronomische Laien dachte. Doch schon wenige Seiten später wird es deutlich physikalischer: Phänomene wie Quantengravitation und Photodesintegration oder Größen wie der Energie-Impuls-Tensor gehören selbst unter den meisten Physikern nicht zur täglichen Sprachroutine. Auch die konsequente Verwendung fachspezifischer Größen und Einheiten (wie zum Beispiel Kelvin statt Celsius) setzen schon ein entsprechendes Vorwissen voraus. Auf der Produktseite des Verlags selbst gibt es keine Angabe zur Zielgruppe.
Unterm Strich kann man sich natürlich fragen, warum man in einer digitalen Welt, die ständig von neuen Erkenntnissen überflutet wird, ein Buch über die 42 größten Rätsel der Astronomie kaufen soll, das morgen schon wieder in Teilen überholt sein kann? Die Antwort könnte lauten: Weil sich hier ein Autor mit Hilfe aktiver Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Mühe gemacht hat, diese vielen und oft unübersichtlichen Informationen so zusammenzutragen und zu dokumentieren, dass sich der Leser gut orientieren kann. Er kann die Fragen auf diese Weise im Hier und Jetzt aktiv mit durchdenken und verstehen – statt sie als bloßes digitales Lesezeichen für einen späteren Konsum abzuspeichern. Für mich ist das Buch daher so etwas wie ein Leuchtturm in meinem astronomischen Bücherregal.
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