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Buchkritik zu »Die Ameise als Tramp«

Der Bucheinband im dramatischen Stil der fünfziger Jahre erinnert an die Abenteuerschilderungen eines Bengt Berg oder Bernhard Grzimek. Und beim Titel denkt man an jene amerikanischen Filme, worin Heere von Killer-Ameisen einsame Farmen heimsuchen und vom Drugstore nur noch Staub und das Skelett des Besitzers zurücklassen.In der Tat gilt ein Kapitel des Buches den "Tramp"-Ameisen, die Menschen und ihre Haustiere angreifen, Computer lahm legen, Krankheitskeime übertragen und landwirtschaftliche Kulturen schädigen, indem sie Blattläuse züchten. Aber es ist kein Roman und handelt auch keineswegs nur von Ameisen. Vielmehr hat der promovierte Biologe und Romanautor Bernhard Kegel ein sorgfältig recherchiertes Sachbuch geschrieben.Es geht darum, wie Lebewesen aller Art in neue Lebensräume einwandern oder verschleppt werden. Das allein ist nicht neu; aber indem der Mensch alle natürlichen Barrieren mit Leichtigkeit und im Massenverkehr überwindet, beschleunigt er – absichtlich oder unabsichtlich – die Besiedlung neuer Lebensräume durch bislang fremde Organismen ungeheuer.Die spektakulären Hollywood-Schocker sind harmlos gegen derartige Invasionen, die gleichwohl von den meisten Menschen überhaupt nicht wahrgenommen werden: Biedere Hauskatzen fressen sich durch ganze Insel-Vogelwelten. Die zitierten Tramp-Ameisen verdrängen oft zahlreiche andere Ameisenarten und dezimieren die übrige Bodenfauna. Kaum einer erkennt das bunte Blütenmeer eingeschleppter Pflanzen als Leichentuch für die verdrängte heimische Flora. Und was weit gereiste Algen oder Fische unter Wasser anrichten, sehen wir ohnehin nicht.Bisweilen sterben den Forschern ihre Objekte unter den Händen aus, wie die Meeresschnecken in der Episode "Schlacht der Schleimer". Zu den Einflüssen des Menschen auf den Artenbestand wird künftig mit ganz neuer Qualität die Gentechnik hinzutreten.Bislang können die Biologen weder vorhersagen, ob die Neusiedler für die ansässigen Organismen überhaupt zur Bedrohung werden, noch, wie letztere davor zu schützen wären. Anders als uns die Filme glauben machen wollen, ist die Bekämpfung von aggressiven Invasoren extrem aufwendig, erzielt allenfalls Teilerfolge und schafft meist neue Probleme.Kegel arbeitet sein Thema mit einer Fülle von Beispielen in alle Richtungen aus: Wer wandert wie, welche Eigenschaften haben Invasoren, welche Folgen ergeben sich? Warum soll man überhaupt ein örtlich begrenztes Ökosystem erhalten? Oftmals sind auch heimische Lebewesen einst zugewandert. Kann man, ja darf man Einwanderer auslöschen?Kegel führt seine Themen unterhaltsam mit lockeren Reportage-Szenen ein – und greift gelegentlich sprachlich daneben, so wenn er gegen die Braune Nacht-Baumnatter Boiga irregularis, die auf der Pazifikinsel Guam die Wälder von Vögeln und deren Gelegen leer gefressen hat, eine "eindeutige Schuldzuweisung" ausspricht. An solchen – kleinen – Stilblüten wird Kegels Dilemma deutlich: Als beobachtender Wissenschaftler sollte er sich der Wertungen enthalten, die von ihm als journalistischem Autor gerade erwartet werden.Und er bezieht eindeutig Position: Sein Herz schlägt für den Naturschutz, der die jeweils "heimischen" Organismen in ihrer Vielfalt zu erhalten sucht. Invasoren, die sich zu "Landplagen" entwickeln, sind demnach einzugrenzen. Wie eine Gesellschaft auf solche Probleme reagiert, schildert der Autor facettenreich am Beispiel Neuseelands. Dessen Natur wurde von einwandernden Arten bis zur Unkenntlichkeit überprägt und um unzählige Arten ärmer.Zugleich beklagt er, dass die meisten Wissenschaftler zu politischen Fragen schweigen, weil sie sich nicht für zuständig halten. Doch wer sonst könnte das Bewusstsein dafür wecken, dass wir Menschen das Aussterben von Arten verstärken, indem wir mit unserer eigenen Ausbreitung in kurzer Zeit viele Lebensbedingungen verändern?Das Buch ist mit Vignetten, Grafiken und Tabellen üppig ausgestattet. Kleine Geschichten stehen als "Appetithappen" herausgehoben neben dem Haupttext. Der Band hat ein umfangreiches Register, ein ansehnliches Literaturverzeichnis und sogar nach Kapiteln geordnete Literaturverweise. Das Glossar ist dagegen lieblos und viel zu kurz, obgleich man sich spürbar bemüht hat, Fremdwörter zu vermeiden. Einige wenige Grafiken sind aus sich heraus unverständlich.Schließlich hätte eine Beschränkung auf weniger Beispiele das komplexe Thema wohl griffiger gemacht. Aber selbst so ist Kegels Werk noch weit entfernt von irgendeiner Vollständigkeit: Der Autor führt im Nachwort an, dass man jeden seiner Punkte mit einem anderen als dem von ihm gewählten Fall hätte illustrieren können.Gleichwohl: Das Buch ist ein unbedingt lesenswertes Kompendium zur Invasionsbiologie.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/00

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