»Die Antike und das Meer«: War Odysseus ein schnöder Pirat?
Ein schön ausgestattetes Buch im Bildbandformat in den Händen zu halten, versehen mit vielen Karten, Bildern aus der Kunstgeschichte, Landschaftsaufnahmen, Zeichnungen et cetera, ist gerade im überbordenden digitalen Zeitalter immer wieder ein Genuss. So ist das Buch tatsächlich das Lesevergnügen, das der Titel »Die Antike und das Meer« verspricht. Verfasst hat es Raimund Schulz, Professor für Alte Geschichte in Bielefeld.
Im Inhaltsverzeichnis sind die großen Namen und die großen Geschichten vertreten: Odysseus, Pompeius und Cäsar oder Athen, die Demokratie oder der Peloponnesische Krieg. Vielleicht ist es bei dem einen oder anderen schon länger her, dass er von ihnen gehört hat, aber zum allgemeinen Kulturgut gehören sie ohne Zweifel.
Bei der Lektüre stellt sich bald die Erkenntnis ein: Über die antike Welt ist noch lange nicht alles erzählt. Das wird durch die Perspektive deutlich, die Schulz gewählt hat: Es geht um das Verhältnis der antiken Kulturen zum Meer. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit die Seefahrt das politische und kulturelle Leben sowie das Denken der Mittelmeervölker geprägt hat – insbesondere das Leben von Händlern, Söldnern und Piraten.
Für ein solches Unterfangen reicht es nicht aus, monoperspektivisch zu arbeiten. Viele Informationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten müssen für eine solche Gesamtschau zusammengeführt werden: Welche natürlichen Ressourcen mussten für die Seefahrt vorhanden sein? Welche technischen Entwicklungen im Schiffsbau waren notwendig? Wie stand es um geografische Kenntnisse? Waren es wirtschaftliche Überlegungen, welche die Menschen auf das Meer hinausgetrieben haben? Oder war es gar reiner Abenteuergeist?
Es ging ums liebe Geld
In der Antike selbst wurde die Ursache für den Drang des Menschen auf das Meer recht nüchtern gesehen: Das Streben nach Reichtum reichte als Beweggrund aus, das Meer und vor allem benachbarte Völker zu erobern. So unprätentiös analysierte es der Athener Stratege und Geschichtsschreiber Thukydides im 5. Jahrhundert v. Chr. – wer Reichtümer anhäufen wollte, musste die Schifffahrtsrouten kontrollieren. Diese Kontrolle erlangte man durch eine gute Flotte, viele Stützpunkte, geschützte Häfen und Kolonien. Das geschah in einem atemberaubenden Tempo. Um 500 v. Chr. hatte sich die griechische Kultur von Spanien bis ins Schwarze Meer in Form der Stadtstaaten ausgebreitet. Ein positiver Nebeneffekt bestand darin, dass auf diese Weise nicht nur Waren, sondern auch Ideen und Kenntnisse von Küste zu Küste reisten, was zu einem bemerkenswerten Aufschwung in den Naturwissenschaften, den Künsten und der Philosophie führte.
Für Liebhaber der Antike wird es vielleicht schmerzlich sein, dass Schulz viele Mythen und Legenden entzaubert. So werden aus den Irrfahrten des Odysseus unrühmliche Kaperfahrten und Beutezüge einer Bande von jungen Erwachsenen. Bei Homer taucht das erste Mal als Bezeichnung für diese Leute das Wort »peirates« auf, aus dem das wenig schmeichelhafte Wort »Pirat« entstanden ist. Homers Landsleute, die Ionier, waren im Übrigen bei ihren Nachbarn als Seeräuber gefürchtet.
Von den Irrfahrten des Odysseus ausgehend, erkundet der Leser mit diesem Buch viele geschichtliche Stationen. Ein Wendepunkt sticht jedoch hervor, nämlich die Seeschlachten von Artemision und Salamis (480 v. Chr.). Der Sieg der Griechen über die Perser unter Xerxes I. festigte den Mythos der Gemeinschaft der Polisbürger, die sich aus einer (vermeintlich) unterlegenen Position heraus gegen die Invasion eines persischen Despoten erfolgreich zur Wehr setzen konnte. Für die sich entwickelnde Staatsideologie Athens sollte die Bedeutung seiner Seemacht in den folgenden Jahrhunderten ein eminent wichtiger Faktor werden.
Der zeitgenössische Dramatiker Aischylos setzte in seiner Tragödie »Die Perser« das neue Selbstbewusstsein der Griechen als Sieger von Seeschlachten um. Neben den üblichen Begründungen für den Sieg – etwa die Motivation der Athener Bürger für die Verteidigung ihrer Heimat oder ihre überlegene Marinetaktik – hatte der schicksalhafte Sieg über die Perser für Aischylos auch eine religiöse Komponente. Aus seiner Sicht hatten die Götter eine natürliche Grenze zwischen Asien und Griechenland gesetzt. In seiner Hybris hatte Xerxes diese Grenze missachtet, seine Niederlage war dann die Strafe der Götter für diesen Hochmut. Praktischerweise konnten sich die Athener selbst so als Werkzeuge göttlichen Wirkens verstehen – eine gute Grundlage für ein stabiles Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie für ein gewisses Sendungsbewusstsein, besonders gegenüber den Nachbarn.
Wie ein roter Faden zieht sich die Bedeutung der militärischen Herrschaft über das Mittelmeer durch die gesamte Antike. Auch das Wohl und Wehe des römischen Imperiums hing von einer starken Marine ab. Gaius Julius Cäsar zum Beispiel ist durch sein Werk »De bello Gallico« eher als Landkrieger bekannt, entscheidend für seinen Aufstieg waren aber seine Erfolge in der Seekriegsführung und seine Fähigkeiten als angesehener Marineexperte. Doch letztlich war auch er nur auf der Suche nach dem schnöden Mammon: Als er Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. nach Britannien übersetzte, waren die Ziele seiner Invasion eher wirtschaftlicher Art. Die Erzminen Britanniens und die Kontrolle über die ertragreichen Zinnhandelsrouten hatten seine Begehrlichkeit geweckt.
Thukydides hatte vor 2500 Jahren schon recht: Das Streben nach Reichtum scheint das wesentliche Movens zu sein, wenn Menschen sich über das Meer bewegen. Viel geändert hat sich daran bis heute nichts.
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