Achtsam in Amerika
Riechen, Schmecken, Sehen, Fühlen – und allem voran: Atmen. Methoden zum Training der eigenen Achtsamkeit gibt es viele und nicht minder entsprechende Fachliteratur dazu. Dass man dem Therapietrend auch auf ganz anderem Wege auf die Spur kommen kann, zeigt Christoph Ribbat. Der Professor für Amerikanistik an der Universität Paderborn hat die Lebensgeschichte einer bisher kaum bekannten Pionierin der Atemarbeit niedergeschrieben.
Die in Berlin geborene Gymnastiklehrerin Carola Spitz experimentierte schon früh mit Techniken zum achtsamen Atmen. Und das, obwohl das Hineinspüren ins Hier und Jetzt in den 1930er und 1940er Jahren kaum so en vogue war wie heute. Die Repressionen der Nationalsozialisten machten der liberalen Jüdin bald das Leben schwer. Es folgt die Flucht in die USA, wo sie in ihrem »Studio für körperliche Umerziehung« am Central Park in New York bis zu ihrem Lebensende gehetzte, schmerzgeplagte oder einfach nur neugierige Großstädter unterrichtete. Ihr Kredo: »Alles beginnt mit der Atmung.«
Die Lebensstationen abgeschritten
Die Biografie ist das Ergebnis präziser Recherchearbeit. Jeder Gedanke, jeder Satz, jede Übung, die hier geschildert wird, stammt dem Autor zufolge aus gesicherten Quellen: aus dem privaten Nachlass von Carola Spitz, ihren sorgfältigen Stundennotizen und Tagebucheinträgen, aus Zeitdokumenten, Gesprächen mit Nachkommen oder ehemaligen Schülern. Ribbat selbst ist die biografischen Hotspots der Atemlehrerin in New York abgeschritten. Kein Wunder also, dass er in filmischer Genauigkeit Lage und Umgebung des »Studios für körperliche Umerziehung« schildern kann. Oder einzelne Kurseinheiten wie das Strohhalmexperiment so detailliert beschreibt, dass seine Leser die Übung zu Hause fast mitmachen können.
Zwei Erzählebenen treffen dabei aufeinander: Die Leser begleiten Carola Spitz durch ihre Ausbildungsjahre in Deutschland, ein paar Seiten weiter dann wieder durch ihr Arbeitsleben in New York. Darüber hinaus beleuchtet Ribbat die Arbeits- und Lebenswege ihrer internationalen Kollegen und Kontrahenten sowie kuriose Trends und Lebenswirklichkeiten wie den New Yorker Smog. Am Ende resümiert er: »Die Frau, die 1901 als Carola Joseph geboren wurde, taugt nur bedingt als Heldinnengestalt. Sie hat die Welt nicht verändert. Aber die Welt hat ihr dazu auch keine Gelegenheit gegeben.«
Es sind die Schilderungen gerade dieser Welt, welche die Biografie stark machen – und verdeutlichen, wie gesellschaftliche Strömungen, neue Ideen und Stolpersteine der Achtsamkeits- und Körperarbeit von damals eine Richtung gaben. Gleichzeitig läuft das Publikum im Getümmel der großteils nie zuvor gehörten Namen Gefahr, den Fokus zu verlieren. Der rote Faden ist und bleibt Carola Spitz, die als Privatperson ein wenig unscharf bleibt – trotz der vielen Quellen des Buchs. Im Vordergrund stand bei ihr immer die Arbeit, das wird auch im Nachlass sichtbar.
Am Ende macht Ribbat selbst den Praxistest. In Berlin belegt er einen Atemkurs, der Spitz’ Techniken nahekommt – und bricht nach einem Tag ernüchtert ab. Er hatte sich das irgendwie spektakulärer vorgestellt. Neben einem Strohhalm und guter Anleitung braucht es, um in die Fußstapfen der Atemarbeitspionierin zu treten, wohl vor allem eines: viel Geduld.
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