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Digitalisierung als Thriller

Die Gefahren, die im Zuge von Big Data, KI und Social Media drohen, verarbeitet dieses Buch als Sciencefiction.

Eine Kultur verhandelt die ihr wichtigen Fragen nicht in Universitätsseminaren, sondern in der Popkultur, schrieb einmal der Kulturwissenschaftler Lorenz Engell. Das gilt für Themen wie Terrorismus, die Effekte von Social Media, neue Technologien wie Supercomputer und vieles mehr. Insbesondere die Sciencefiction fungiert seit Jahrzehnten als Sublimationsfläche kultureller Ängste und Hoffnungen. Mit dem Aufkommen der Digitalcomputer in den 1950er Jahren entstanden Erzählungen, Filme, Comics und andere Medien, die die oft bedrohlich wirkenden Aspekte dieser Apparate publikumswirksam aufbereiteten und sozusagen verarbeitbar machten. Nicht selten stellten sie die Technologie als ambivalentes Werkzeug dar, das die Gesellschaft vor ganz neue moralische Aufgaben stellt.

In die gleiche Kerbe schlägt der Roman »Die Codices«, mit dem der promovierte Informatiker Wolfgang Eckstein kürzlich debütiert hat. Das 670 Seiten umfassende Werk behandelt gleich mehrere »heiße Themen« rund um die Digitalisierung und baut seinen Lesern zum Verständnis eine Brücke, die von der römischen Antike bis in die nahe Zukunft und von Informatik in die Sciencefiction reicht.

Eine Jahrhunderte umspannende Geschichte

Erzählt werden drei Stränge, die der Autor aufeinander zulaufen lässt: Die Geschichte des Computerforschers Lennard Sander, der einen DNA-Computer entwickelt; die Geschichte des römischen Bürgers Gaius, der im dritten Jahrhundert n. Chr. in Alexandria Mathematik studiert und dabei mit dem antiken Mathematiker Diophantos in Kontakt kommt; und jene des italienischen Archäologen Alesandro Gondi, der auf der Suche nach den verschollenen Büchern Diophantos' ist. In wechselnder Perspektive entfaltet Eckstein deren Erlebnisse und durchsetzt sie mit historischen, kulturellen und technischen Informationen. Das Ganze schmückt er mit Liebesgeschichten, Abenteuern und handfesten Actionszenen aus. Die Plotstränge laufen an dem Punkt zusammen, an dem es Sander gelingt, seinen DNA-Computer fertigzustellen, welcher ihm jedoch sogleich von einem mächtigen japanischen Konzern gestohlen wird. Das Unternehmen will die Technik für kriminelle Aktivitäten größten Ausmaßes einsetzen, wogegen sich Sander und seine Freunde zur Wehr setzen. Mit Hilfe der diophantischen Schriften soll es gelingen, das System außer Betrieb zu setzen, wozu neben Mut und Erfindungsreichtum auch theoretische Informatik und Mathematik benötigt wird.

Eckstein lässt sein Publikum über 450 Seiten zappeln, bis er es endlich mit dem zentralen Thema des Romans konfrontiert. Bis dahin müssen die Leser einige mitunter recht kitschige Liebesgeschichten und unglaubwürdige Wendungen hinnehmen, die als Vorbereitung auf den Showdown dienen. Das wäre in einem Thriller sicherlich zu verkraften, würde der Schreibstil das Interesse wachhalten. Aber so gut konstruiert der Plot auch ist – im letzten Drittel vermag er tatsächlich mehrfach zu überraschen –, so uninspiriert erweist sich der Text auf der sprachlichen Ebene. Zeitweise meint man es mit der Verwirklichung eines Schnellkurses für kreatives Schreiben zu tun zu haben – insbesondere, wenn es um die Beziehungen der Figuren zueinander (vor allem die zwischengeschlechtlichen) geht.

Nichtsdestoweniger vermittelt der Roman reichlich Kulturgeschichte, Geologie, Landeskunde sowie Mathematik und Informatik. Die letzten beiden sind – mit einer gehörigen Portion Technologiekritik versehen – das eigentliche Thema des Buchs. Der DNA-Computer macht nämlich nie da gewesene Speichermengen und Verarbeitungsgeschwindigkeiten verfügbar. In die Hände des verbrecherischen Konzerns gelangt, wird er sofort dazu eingesetzt, aus allen möglichen Quellen Daten zu sammeln, Passwörter zu knacken, Systeme mit Trojanern zu infizieren, Medien zu beeinflussen und Kommunikations- wie Verkehrsinfrastrukturen zu manipulieren. Ziel des Unternehmens ist es, durch Totalüberwachung und Big-Data-Analyse das Verhalten jedes Menschen vorherzusagen und in bare Münze umzuwandeln.

Im letzten Drittel legt sich der Roman richtig ins Zeug und stellt mögliche konkrete Anwendungen für solch ein System vor – etwa zur Abschaffung des Bargelds, zum Abhören von Smart-Devices, zur Platzierung personenbezogener Produktwerbungen, zu »Designer-Babies« oder zur effektiven Beeinflussung von Regierungen. Etliches von dem, was der Autor präsentiert, befindet sich schon seit Langem im kulturellen Diskurs – meist im Duktus der Warnung vor künstlicher Intelligenz, Big Data, Quantencomputern und den Folgen der Social Media. All diese Felder verdichtet Eckstein auf den fiktiven DNA-Computer. Dass dieses System in der Welt ist, können die Protagonisten zwar nicht mehr ändern, aber die damit verbundenen Missbrauchsmöglichkeiten und moralischen Implikationen können sie aufdecken.

Der DNA-Computer muss schließlich gleich zweimal mit den Waffen der Wissenschaft zur Strecke gebracht werden. Der erste Angriff nutzt das antike Wissen des Diophantos, indem dem Computer Aufgaben gestellt werden, für die er keine Lösung findet – von denen er aber auch nicht erkennen kann, dass sie für ihn unlösbar sind. Die Hacker, die den Rechner damit lahmlegen, nutzen die Tatsache, dass auch ein DNA-Computer nur eine Turing-Maschine ist, die alles Berechenbare berechnen kann, aber nicht erkennt, ob etwas berechenbar ist oder nicht – und damit auf das berüchtigte Halteproblem stößt. Der zweite, finale Angriff auf den DNA-Computer geschieht auf andere Weise, die eher in den Scifi-Bereich gehört und hier zu Gunsten der Spannung nicht verraten werden soll.

Die Lektüre bis dahin ist recht beschwerlich, verlangt Durchhaltevermögen und das Übergehen von Klischees, die von inselbegabten Autisten über Auftritte des IS und der Yakuza bis hin zu ausgedehnten Bibelexegesen reichen. Man merkt jedoch, dass der Autor dies alles in aufwändiger Hintergrundrecherche zusammengetragen hat, um den Plot möglichst vielseitig zu gestalten. Jenen Lesern, denen es zu viele Fremdwörter und wissenschaftliche Begriffe werden, können im angehängten Glossar nachschlagen. Dort enthält allerdings ausgerechnet der Eintrag zum »Yottabyte« gleich zwei Fehler: »Ein Yottabyte sind 1024 Byte, das entspricht 1012 Terabyte.« Dass hier übersehen wurde, die Exponenten 24 beziehungsweise 12 hochgestellt zu schreiben, könnte ein Symptom dafür sein, dass der popkulturellen Verarbeitung wichtiger Themen auch gewisse Grenzen gesetzt sind.

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