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»Die Entschlüsselung der Hieroglyphen«: Im Bann rätselhafter Zeichen

Edward Dolnick erzählt, wie zwei Genies in spannender Konkurrenz eines der größten Geheimnisse der Menschheit gelöst haben.
Ägyptische Fassung

Die beiden Helden der Geschichte hatten fast nichts gemeinsam, abgesehen davon, dass sie Genies waren und ein Talent für Sprachen besaßen. Der Engländer Thomas Young war einer der vielseitigsten Denker seiner Zeit. Er scheute keine intellektuelle Herausforderung, ganz gleich ob natur- oder geisteswissenschaftlicher Natur. Der Franzose Jean-Francois Champollion dagegen war zielstrebig und fokussiert. Er widmete sein ganzes Leben der Erforschung Ägyptens.

Wie entschlüsselt man Hieroglyphen?

Für beide wird ein vermeintlich unscheinbarer Fund in der abgelegenen Stadt Raschid im Jahr 1799 zu einem der wichtigsten Meilensteine ihres Lebens: der Stein von Rosette. Viele Jahre sollten die Inschriften auf dem gut 750 Kilogramm schweren Quader die zwei Forscher beschäftigen. In drei Sprachen waren sie verfasst, in altägyptischen Hieroglyphen, auf Demotisch und auf Griechisch. Lediglich Griechisch konnte man damals ohne Probleme verstehen. Das Wissen, wie man Hieroglyphen liest, war über die Jahrtausende verloren gegangen. Auch das Demotische, eine Weiterentwicklung der ägyptischen Sprache um das 7. Jahrhundert v. Chr., war ein einziges Rätsel. Doch war man sich schnell sicher: Die Textinhalte auf dem Stein dürften in allen drei Schriften ähnlich sein. Hoffnung keimte auf, ein Fenster zum Verständnis des alten Ägypten entdeckt zu haben. Aber es sollte ein langer und beschwerlicher Weg werden, bis die Hieroglyphen ihre Geheimnisse preisgaben.

Den Mix aus Geschichte, Schriftkunde und Rätsel um eine sagenumwobene Kultur erzählt Edward Dolnick in seinem Buch »Die Entschlüsselung der Hieroglyphen«. Er lässt die Leserinnen und Leser in die bewegte Epoche eintauchen, als Napoleon 1798 in Ägypten einfiel. Es herrschte Krieg zwischen Frankreich und England, den beiden großen Imperien jener Zeit. Die unumstrittene Seemacht England vernichtete damals die Flotte Napoleons vor der ägyptischen Küste. So waren die französischen Soldaten gezwungen, im Land zu bleiben. Auf ihren Streifzügen entdeckten sie den Stein von Rosette. Fesselnd beschreibt Dolnick die Stimmung in dem legendären Land am Nil, das damals noch nicht erforscht war. Die Europäer waren von den zahllosen Tempeln und Palästen fasziniert, die, halb im Sand vergraben, mit geheimnisvollen Inschriften verziert waren, die kein Mensch lesen konnte.

Wie das Unmögliche dennoch möglich wurde, erzählt der Autor im Anschluss. Er gibt damit einen spannenden Einblick in die Kunst der Entschlüsselung einer unbekannten Sprache. Die Texte auf dem Stein von Rosette waren nämlich keineswegs komplett identisch, sondern entsprachen sich lediglich sinngemäß. So einfach war das Ratespiel also nicht. Es sollte sich über gut drei Jahrzehnte hinziehen und zu einem spannenden Wettlauf um das Verständnis der Hieroglyphen zwischen Young und Champollion entwickeln. Beide wurden fast gleichzeitig in den Bann der Hieroglyphen gezogen.

Aber was verbarg sich hinter dieser geheimnisvollen Anordnung aus Bildern und Zeichen? Die Lösung ins Rollen brachten so genannte Kartuschen. Die Vermutung war: Kartuschen sind Ovale, die vermeintlich ganz besondere Stellen im ägyptischen Schriftbild einrahmen. Der Verdacht bestätigte sich, und Thomas Young konnte schließlich mit Sicherheit sagen, dass eine dieser Kartuschen die Zeichen für den König Ptolemaios enthielt. Hier gibt Dolnick einen hervorragenden Einblick, wie man auf eine solche Analogie zwischen unterschiedlichen Alphabeten kommt. Es gehört schon eine Menge Vorwissen und Routine im Sprachverständnis dazu, um derartige Parallelen in den Texten zu identifizieren.

Was Young so glanzvoll initiierte, setzte sein Rivale dann akribisch fort. In den folgenden Jahrzehnten analysierte Champollion unzählige Innschriften aus Hieroglyphen. 1832, am Ende seines relativ kurzen Lebens, hatte er zwar noch kein vollständiges Verständnis der Hieroglyphen, konnte Inschriften jedoch nahezu vollständig lesen. Kurz vor seinem Tod übergab er seinem Bruder das unvollendete Manuskript seiner »Ägyptischen Grammatik«: Es war eine klarsichtige und elegante Darlegung der Entdeckungen seines Lebens, schreibt Dolnick.

Wer in eine spannende Zeit eintauchen möchte, in der der Grundstein für das Verständnis des alten Ägypten gelegt wurde, der ist mit dieser Lektüre bestens aufgehoben. Atmosphärisch dicht beschreibt Dolnick die damaligen Ereignisse. Für den Autor ist der Stein von Rosette die ultimative Flaschenpost, angespült von den Wellen der Zeit. Er war nicht als Botschaft an ein fernes Publikum gedacht, sondern sollte einfach nur gelesen werden. Aber seine Entdeckung Jahrhunderte nach dem Verschwinden der ägyptischen Kultur lässt ihn wie die allererste Kommunikation aus einer vollkommend fremden Welt wirken.

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