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Imaginäre Linien

Der Geo-Historiker Christian Grataloup zeigt, wie Weltbilder Weltkarten generierten.

Dass Ländergrenzen sich immer wieder ändern können, lehrt die Geschichte. Doch wie verhält es sich mit den Kontinenten? Sind ihre Konturen wirklich unverrückbar? Und wie sind diese überhaupt zu Stande gekommen? Diesen Fragen widmet sich der renommierte Geograf und Historiker Christian Grataloup in seinem Buch »Die Erfindung der Kontinente«.

Keine eindeutige Einteilung

In seiner »tour d'horizon« durch die Geschichte der Kartografie zeigt der Autor auf, dass die Einteilung der Welt in Kontinente nicht so eindeutig ist wie gedacht. Diese beruht nicht auf natürlichen Grenzen, sondern ist vielmehr menschengemacht, so die Kernaussage des überaus lesenswerten Buchs. Anhand literarischer Quellen, historischer Karten und Kunstwerken erläutert der renommierte Geo-Historiker, wie Weltbilder Weltkarten hervorbrachten und welche konkreten Vorstellungen in deren Darstellung mit einflossen.

Die Fähigkeit, Räume zu erfassen und bildlich darzustellen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Karten sind folglich Umsetzungen räumlicher Vorstellungen und des Wissens über den Raum – und somit Momentaufnahmen einer Epoche und ihrer Vorstellungswelt.

Die Einteilung in kontinentale und maritime Weltregionen, so Grataloup, ist vornehmlich durch kulturelle Festlegungen im Lauf der Geschichte geprägt. Ob die babylonische Weltkarte aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., die spätrömische »Tabula Peutingeriana« oder die neuzeitlichen Weltkarten Martin Waldseemüllers (1507) oder Gerhard Mercators (1569) – sie alle sind künstliche Projektionen und spiegeln ein ganz bestimmtes Weltbild wider. Auf ersterer wird Babylon zum Nabel der Welt erklärt. Das auf der »Tabula Peutingeriana« verzeichnete römische Straßennetz versinnbildlicht die Durchdringung und Beherrschung des Raums durch die Weltmacht Rom. Und die neuzeitlichen Kartenwerke zeigen einen Blick auf die Welt, wie ihre Macher sie sehen wollten – nämlich aus eurozentrischer Sicht. Für Grataloup steht fest: »Auf Karten dargestellte Kontinente verraten mehr über das Weltbild der Epoche als über geografische Wahrheiten.«

Dass mit der geografischen Einteilung in Kontinente auch eine Rollenzuweisung der dort lebenden Menschen verbunden war, verdeutlicht der Autor anhand eines Stichs des flämischen Grafikers Julius Goltzius aus dem 16. Jahrhundert. Dort wird das personifizierte Europa als machtvoll glänzende Dame dargestellt, während ihr afrikanisches Pendent Afrika weitgehend nackt abgebildet wird, was die vermeintliche Rückschrittlichkeit des Kontinents verdeutlichen sollte. Solche Darstellungen der jeweils anderen waren durchaus rassistisch und offenbaren die ideologischen Auswirkungen der Raumvorstellungen. So hat das Denken in kontinentalen Kategorien Rassismus und Imperialismus unterstützt und gefestigt sowie andere Formen von Superioritätsdenken hervorgebracht.

Grataloup hat nicht nur ein opulent bebildertes Kompendium über die Darstellung der Welt vorgelegt, sondern auch eine überaus intelligente Studie, welche die politische und kulturhistorische Bedeutung von Kartografie und Geografie begreiflich macht. Für den Autor sind Kontinentalgrenzen imaginäre Linien, weder natürlich noch von Dauer. Diese Sicht auf die Welt öffnet Horizonte und regt an, über vieles neu oder aus einem anderen Blickwinkel nachzudenken. Gerade im Zeitalter der Globalisierung scheinen Phänomene wie Migration, Warenketten oder Interkulturalität räumlich festgefügte Strukturen aufzubrechen und die Suche nach einer neuen Orientierung in einer immer stärker zusammenwachsenden Welt zu beflügeln.

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