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Hoffnungslos utopisch

Der halbe Planet soll unter Naturschutz gestellt werden? Nichts weniger verlangt der Biologe Edward O. Wilson, einer der Großen seines Fachs, im vorliegenden Buch. Es trägt die Forderung bereits im Titel: "Die Hälfte der Erde". Wie diese radikale Idee Realität werden soll, ist die Frage, mit der man gespannt zu lesen beginnt.

Leider ist gleich das Vorwort des Werks verunglückt. Ein Lektor hätte dies leicht vermeiden können, ebenso spätere Fehlangaben, etwa dass der Baikalsee in Europa liege. Wilson, mittlerweile 87 Jahre alt, präsentiert sich unkonzentriert, springt in der Argumentation, nimmt verwirrende Perspektivwechsel vor und bringt dann auch noch wenig gelungene Sprachbilder (der Mensch "ein denkendes Wesen, sprudelnd von Religion"). Man sollte diese ersten Seiten vielleicht überblättern.

Sieben Jahrzehnte Insektenkunde

70 Jahre lang hat Wilson seinen Blick auf den Boden geheftet, um Ameisen zu erforschen. Das tat er mit überwältigendem öffentlichem Erfolg, auch weil er großartige Prosa verfassen kann. Der mittlerweile emeritierte Professor der Harvard University bekam höchste wissenschaftliche Auszeichnungen nebst zwei Pulitzerpreisen und begründete die Soziobiologie, eine Disziplin, die das Wechselspiel von Evolution und sozialem Verhalten betrachtet.

Wilson schließt mit diesem Buch eine Trilogie ab, die sich mit der Geschichte des Menschen befasst. In deren erstem Band, "Die soziale Eroberung der Erde" (2012 im Original erschienen), vollzog er eine Aufsehen erregende Kehrtwende, indem er verkündete, dass die soziale Gruppe und nicht das "egoistische" Gen den Menschen menschlich werden ließ. Nachdem er die These publiziert hatte, ging in der akademischen Welt ein Shitstorm auf ihn nieder, der seinesgleichen sucht. Richard Dawkins ("Das egoistische Gen") empfahl, Wilsons Buch "mit kräftigem Schwung" wegzuwerfen. Das war kein guter Tipp. Wilsons Postulat, die Gruppenselektion sei ein zweites wichtiges Selektionsprinzip der Evolution, stößt bei immer mehr Forschern auf Zustimmung. Auch Darwin hatte schon Entsprechendes vermutet, da er sich sonst die Entstehung des Altruismus nicht erklären konnte.

Reizthema Anthropozän

Bald darauf legte Wilson mit "Der Sinn des menschlichen Lebens" nach (2014 im Original erschienen). Doch im nun vorliegenden letzten Band vergaloppiert er sich. Zunächst in seinen Ausführungen zum Anthropozän, dem erdgeschichtlichen Abschnitt, in dem der Mensch dominiert und der laut Vorschlägen von Geowissenschaftlern das Holozän ablösen soll. Empört bekämpft Wilson die Befürworter dieses Konzepts; er meint, sie wollten die Vormachtstellung des Menschen in der Natur auf Kosten der Biodiversität weiter ausbauen. Für ihn sind sie Anti-Naturschützer, die lieber ein technisch hochgerüstetes Raumschiff lenken als Frösche retten. Es gibt zwar durchaus Anthropozän-Verfechter, die von "arbeitenden Landschaften" sprechen, mit dem primären Zweck, für den Menschen profitabel zu sein. Doch allen gleichermaßen vorzuwerfen, sie seien vor lauter Utilitarismus nicht an Naturschutz interessiert, ist undifferenziert und falsch. Über das Anthropozän zu diskutieren, bedeutet für die überwältigende Mehrheit, sich die Verantwortung für den Planeten bewusst zu machen.

Wilsons Forderung, die er gegen Ende des Buchs als "Die Lösung" präsentiert, ist geradezu bizarr: Die einzige Möglichkeit, ein sechstes Massenaussterben zu verhindern, bestehe darin, "die Fläche der unantastbaren Naturreservate auf mindestens die halbe Erdoberfläche auszuweiten". Unantastbar? Wenn demnächst zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben? Kurzerhand lässt der Biologe verlauten: "Eingriffe in Eigentumsverhältnisse sind unnötig." Bei der Lösung des Flächenproblems kennt sein Fortschrittsglaube plötzlich keine Grenzen mehr. Eine technisch-ökonomische Evolution (mit Robotik, künstlicher Intelligenz, Biotechnologie, Indoor-Landwirtschaft mit gentechnisch veränderten Organismen) werde den ökologischen Fußabdruck der Menschen derart minimieren, dass die Hälfte des Planeten ausreiche, um alle satt zu machen. Das ist Sciencefiction. Man mag es nicht für bare Münze nehmen.

Leidenschaftlich für die Biodiversität

Und doch ist da etwas, das den Leser das ganze Buch hindurch berührt. Hingebungsvoll trägt Wilson gelungene Beispiele des Artenschutzes zusammen, präsentiert "Helden", die große Naturreservate schaffen, schildert eine Briefaktion an 18 renommierte Biologen, die ihm die besten Plätze der Biosphäre nennen sollten, die er nun im Buch beschreibt. Wenn der Ameisenforscher uns die Bartwurmgattung Osedax vorstellt, dann blitzt der witzige und staunende Wilson durch, den wir seit Jahrzehnten schätzen.

Unübersehbar ist dieses Alterswerk Wilsons moralisches Vermächtnis. Er, der Feldbiologe, würde uns gern dazu verpflichten, die Natur unerschütterlich zu lieben. Dafür unternimmt er alles – auch den Versuch, uns von hoffnungslos utopischen Konzepten zu überzeugen.

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