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Wider Seuchen, Schmerz und Tod

Der US-amerikanische Medizinhistoriker Ronald D. Gerste erzählt von den Sternstunden der modernen Medizin.

Es kann nur von Vorteil sein, wenn Autoren in mehreren Disziplinen zu Hause sind. Das ist auch der Fall bei dem Arzt und Historiker Ronald D. Gerste, der diese Allianz aus medizin- und geisteswissenschaftlichen Kenntnissen für sein neues Buch nutzt. In »Die Heilung der Welt« widmet er sich einem Zeitraum – von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 –, in dem »allmählich die weißen Flecken auf der Landkarte der medizinischen Möglichkeiten kleiner wurden«. In diese äußerst dynamische Zeit fallen zwei der größten Errungenschaften der Medizin: Anästhesie und Antisepsis. Die eine lindert Schmerzen bei einem operativen Eingriff, die andere senkt die Gefahr von Wundinfektionen.

Das Zeitgemälde einer fortschrittlichen Epoche

Gerste sieht sein Buch nicht als Medizingeschichte, sondern eher als »Zeitgemälde« einer auf vielen Gebieten fortschrittsgläubigen Epoche, die er primär aus medizinischer Sicht betrachtet. Anschaulich, lebensnah und leicht verständlich schildert er die großen Errungenschaften der modernen Humanmedizin und zeichnet zugleich ein persönliches Porträt ihrer Pioniere.

Die Leser machen Bekanntschaft mit dem Serologen Paul Ehrlich, der einen antimikrobiellen Wirkstoff gegen Syphilis und zugleich das erste Chemotherapeutikum der Medizin entwickelte; sie erfahren, wie der englische Arzt John Snow, Begründer der Epidemiologie, die Übertragungswege von Cholera zurückverfolgte; sie erleben hautnah mit, wie der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis mit seinem Postulat »Hände waschen ist gleich Leben retten« die Hygiene als präventive Maßnahme zur Vermeidung von Krankheiten bekannt machte. Man hört ferner von Joseph Lister, der statt zum Messer zur Karbolsäure griff und mit dieser antiseptischen Behandlung den nach Verletzungen auftretenden Fäulniserregern den Garaus machte. Und man lernt mit dem amerikanischen Zahnarzt William Thomas Green Morton den Mann kennen, der 1846 mit der Erfindung der Äthernarkose den Schmerz bei Operationen besiegte.

Dabei hat der Autor stets auch das politische Umfeld und den im Behandlungszeitraum rasant fortschreitenden gesellschaftlichen und demografischen Wandel (Wachstum von Städten, massive Industrialisierung) im Blick, was das Buch besonders lesenswert macht. Denn einerseits begünstigen diese Faktoren Krankheiten, andererseits beschleunigen sie medizinischen Fortschritt.

Mit Sachkenntnis und historischem Weitblick erläutert der Autor, wie die medizinischen Erfolge mit den historischen Umständen ihrer Zeit verbunden waren. So hat der Krimkrieg (1853–1856) Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes inspiriert und Seelsorgerinnen wie Florence Nightingale als Wegbereiterin der modernen Krankenpflege hervorgebracht.

Dass medizinische Erfindungen auch eine Bürde sein konnten, beschreibt Gerste pointiert anhand des wissenschaftlichen Diskurses innerhalb der Ärzteschaft, der bisweilen von kollegialem Neid und medizinischem Standesdünkel geprägt war. Und er zeigt an der Anwendung von Kokain und Röntgenstrahlen auf, dass moderne Therapien mitunter auch negative Folgen haben können. In beiden Fällen stellten sich nach anfänglichen Erfolgen langfristige Nebenwirkungen ein: Das zur Betäubung eingesetzte Kokain macht süchtig, während die zur Bildgebung genutzten Röntgenstrahlen Krebs erregend sein können.

Gerste hat ein überaus lesenswertes Buch über eine erstaunlich dynamische Epoche vorgelegt, in der die Medizin bahnbrechende Fortschritte machte. Ein Muss für alle historisch Interessierten!

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