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Rezensionen: Lob dem Zweifel

Literaturwissenschaftlerin Siri Hustvedt setzt sich mit der Philosophie des Geistes auseinander.

»Ein Mann sitzt allein in einem Raum und denkt. Dieses Bild spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte des modernen westlichen Denkens. Wie dieser Mann dort hingelangte, ist meist nicht Bestandteil des Bilds. Er muss geboren worden sein, muss eine Kindheit gehabt haben, doch der Philosoph ist per Definition immer schon erwachsen. Bis heute handelt es sich fast ausschließlich um einen Er, nicht um eine Sie.«

Diese Passage aus Siri Hustvedts Essayband »Die Illusion der Gewissheit« fängt sowohl die thematische Ausrichtung als auch sprachliche Eleganz der hier versammelten Texte ein. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin setzt sich mit der von Männern dominierten Philosophie des Geistes und angrenzenden Disziplinen auseinander. Ihre Betrachtungen wechseln dabei munter zwischen Neurowissenschaft, Psychologie, Soziobiologie und Kulturtheorie hin und her und werfen ein ungewöhnliches Licht darauf, wie wir uns das Zusammenwirken von Gehirn und Geist erklären.

Konsequent weggelassen

Die Sammlung von Aufsätzen erschien 2016 im Englischen unter dem Titel »A Woman Looking at Men Looking at Women« (»Eine Frau, die Männer ansieht, die Frauen ansehen«). Allerdings ist das Original gut doppelt so umfangreich wie die nun im Rowohlt-Verlag erschienene Auswahl von 30 Übersetzungen. Die deutsche Fassung lässt konsequent alle Beiträge zu künstlerischen und im engeren Sinn kulturellen Fragen aus, darunter Essays über den Maler Anselm Kiefer, den Filmemacher Wim Wenders oder über Hustvedts Schreibkurse mit Psychiatriepatienten.

Das gibt den zur Abschweifung neigenden Texten eine größere inhaltliche Geschlossenheit. Wohltuend ist zudem die variable Länge der Essays. Fast dreißigseitige Rundumschläge wie »Der denkende Körper« wechseln ab mit kurzen Einwürfen etwa zum vermeintlich mangelnden Zahlensinn von Frauen oder zu Alan Turings Beitrag zur KI-Forschung. Sprache und Körper, Geschlecht und Gene, Erfahrung und Vorurteile sowie die Tatsache, dass sich subjektives Erleben nicht auf abstrakte »Informationen« reduzieren lasse – das sind die großen Fragen, die dieser Band behandelt.

Hustvedt bleibt dabei stets konkret und verständlich, akademisch abgehobene Welterklärungen sind ihre Sache nicht. Immer wieder hält sie auch der Zunft der Journalisten und Wissenschaftspopularisierern einen Spiegel vor. Deren unsauberer Sprachgebrauch, gepaart mit Sensationslust, stifte in den Köpfen vieler Laien mehr Verwirrung und Vorurteile, als die selbsternannten Volksaufklärer sich eingestehen wollen.

Ein besonderes Anliegen ist es der Autorin, die Vorzüge des kritischen Hinterfragens zu betonen. »Der Zweifel«, schreibt sie, »öffnet das Denken für fremde Ideen.« An die Stelle pauschaler Antworten setzt sie die Suche nach Wahrheit, die immer wieder auf Distanz zu sich selbst geht. Unter dem Strich enthält der Band allerdings doch eine Spur zu viele offene Fragen. Mancher Abgesang, etwa auf den Begriff der Verdrahtung oder die Computermetapher des Gehirns, wirkt altbekannt; man wünschte sich hier und da eine starke These und den Versuch, diese zu untermauern. Schließlich lebt der Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft zwar auch, aber nicht nur vom Zweifel. Mindestens ebenso wichtig sind Hypothesen, die man zäh verteidigt, bis sie von besseren abgelöst werden.

Am Interessantesten sind Hustvedts Ausführungen dort, wo sie ungewöhnliche Perspektiven bieten: etwa, wenn sie die zu Unrecht vergessene Naturphilosophin Margaret Cavendish (1623–1673) vorstellt oder die neodarwinistische Sicht auf die Kultur kritisiert. Viele der von ihr vorgebrachten Argumente hat man so oder so ähnlich allerdings schon einmal gehört.

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