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»Die Illusion der Massen«: Die Maske der Konformität

Unser Verhalten ist von Konformität und Mitläufertum geprägt. Todd Rose zeigt, warum das so ist und wie wir die Grenzen, die sich daraus ergeben, überwinden können

Der amerikanische Soziologe Richard Schanck stand 1928 vor einem Rätsel. Für seine Doktorarbeit untersuchte er die menschliche Meinungsbildung. Dazu hatte er sich für eine dreijährige Feldstudie das Dorf Eaton (das er »Elm Hollow« nennt) bei New York ausgesucht. Nach außen vertraten die Dorfbewohner strikt konservative Moralvorstellungen. So waren etwa Kartenspiele, Rauchen, Alkohol oder ein sonntäglicher Theaterbesuch verpönt. Doch in persönlichen Gesprächen fand er schnell heraus, dass die Menschen in ihren privaten vier Wänden durchaus Karten spielten und von den öffentlich vertretenen Normen abwichen.

Schanck konnte diese Diskrepanz erst klären, als er die untersuchten Personen bat, ihre persönliche Einschätzung darüber zu äußern, wie wohl die Mehrheit der Dorfgemeinschaft über die strittigen Themen dächte. Die Antwort war in der Regel, dass die meisten Menschen darin sündiges Verhalten sehen würden. Da sie in der kleinen Dorfgemeinschaft nicht ausgegrenzt werden wollten, hatten sich die Befragten der angenommenen Mehrheitsmeinung angepasst. Schanck konnte sogar als Urheberin dieser öffentlichen Meinung eine sehr einflussreiche Dorfbewohnerin ausmachen, von der auch der vermeintlich fundamentalistische Pfarrer finanziell abhängig war. Nachdem die Dame gestorben war, nahm sogar er an einer Bridgeparty teil.

Rose zeigt in seinem Buch an Beispielen wie diesem, wie die vermeintliche öffentliche Meinung oft entsteht: durch Selbsttäuschung, Fehleinschätzungen und Konformitätsdruck. Dazu beschreibt er im ersten Teil zunächst Konformitätsfallen, in denen das Individuum eigenständiges Denken zugunsten einer kollektiven Illusion opfert. Anschließend betrachtet Rose biologische, evolutionär bedingte Aspekte, die unser Gehirn für kollektive Illusionen empfänglich machen. Der dritte Teil widmet sich den Konsequenzen dieses Verhaltens und zeigt zugleich, wie dieser Konformitätsdruck aufgebrochen werden kann.

Wenn die öffentliche Meinung falschliegt

Auch Verhaltensweisen wie Hamsterkäufe werden thematisiert: etwa die völlig irrationale Angst, dass während der Coronapandemie das Toilettenpapier ausgehen könnte. Eigentlich bestand in der Produktion kein Mangel. Doch der Glaube an einen Engpass und die Einschätzung, dass »die anderen« das Toilettenpapier aufkaufen könnten, führte letztlich zu tatsächlich leeren Regalen im Supermarkt.

Am Beispiel eines Hilfsprojekts für unterernährte Kinder im Vietnam der 1990er Jahre zeigt Rose, wie kollektive Illusionen aufgebrochen werden können. Die zur Lösung des Problems hinzugezogenen ausländischen Experten fanden heraus, dass es in einem Dorf nicht nur viele unterernährte Kinder gab, sondern auch einige gesunde Kinder. Doch deren Eltern waren genauso arm wie die Eltern der unterernährten Kinder. Der Unterschied lag darin, dass die Eltern der gesunden Kinder die kärglichen Mahlzeiten zusätzlich mit Krabben und Süßkartoffelblättern anreicherten. Diese waren nährstoffreich, galten aber der restlichen Dorfbevölkerung als minderwertig. Diejenigen, die von der Mehrheitsmeinung abwichen und nicht an die Minderwertigkeit von Krabben und Süßkartoffelblättern glaubten, wurden dann behutsam ermutigt, ihre Erfahrungen öffentlich zu teilen. Dadurch konnte die Ernährungssituation verbessert werden.

Angesichts der heutigen Meinungsmanipulation durch Marketing, politischen Populismus, Fakenews, Verschwörungserzählungen und Influencer ist das von Rose vorgelegte Buch wichtiger denn je. Öffentliche Meinungen und Stimmungen müssen bewusst hinterfragt werden, damit man nicht blind vermeintlichen Wahrheiten und Meinungsführern hinterherläuft. Dazu gehört nicht nur Mut, sondern auch ehrliche Selbstkritik.

Doch auch diese kann natürlich misslingen. Denn wie lassen sich Tatsachen und Wahrheiten angesichts der zum Teil marktschreierischen Kakophonie der Meinungen und der oft sehr subtilen Propaganda verschiedenster Akteure identifizieren? Unser Dilemma besteht darin, dass wir uns Erkenntnisse selbst erarbeiten müssen, aber gleichzeitig nicht ohne die zumindest teilweise Anpassung an unsere Mitmenschen auskommen; sonst drohen individuell Ausgrenzung und im großen Maßstab das Auseinanderbrechen einer Gesellschaft.

»Die Illusion der Massen« ist verständlich geschrieben und verfügt über ein umfangreiches Endnoten- sowie ein Stichwortverzeichnis. Es eignet sich für Leserinnen und Leser, die das Phänomen der öffentlichen Meinung, aber auch das individuelle menschliche Verhalten kritisch hinterfragen möchten.

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