Direkt zum Inhalt

»Die KI sei mit euch«: Künstliche Intelligenz verändert alles

Auf welche sozialen Rahmenbedingungen trifft die künstliche Intelligenz? Welche Chancen bietet sie? Fundierte Antworten auf solche Fragen gibt Helga Nowotnys Buch.
Ein Gehirn mit vielen bunten Farbkleksen

Aus der Flut von Publikationen, die sich mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz (KI) befassen, sticht dieses Buch durch seinen Fokus auf die sozialen Rahmenbedingungen heraus. Auf was für eine Welt treffen die neuen Technologien? Wie gut ist die Gesellschaft gegen deren Risiken gewappnet? Wie kann der Mensch lernen, die Chancen zu nutzen, die intelligente Maschinen eröffnen?

Die Soziologin Helga Nowotny bringt die nötige Expertise mit, um solche Fragen zu beantworten. Sie lehrte an der ETH Zürich Wissenschaftsphilosophie und war Präsidentin des Europäischen Forschungsrats. Für ihre Arbeiten zur Wissenschaftsforschung erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Stets galt ihr Interesse den sozialen Auswirkungen technischer Entwicklungen.

Ihre eigene Position zu den neuen Technologien bezeichnet Nowotny als »digitalen Humanismus«. Damit grenzt sie sich von Spekulationen ab, die unter dem Etikett »Transhumanismus« eine nahe Zukunft ausmalen, in der sich die Menschheit der Herrschaft der KI bereitwillig ausliefert. Vielmehr geht es Nowotny darum, die spezifisch menschlichen Wünsche und Ziele stark zu machen, denen sich die digitalen Denkwerkzeuge unterordnen sollen.

Die Autorin scheut sich nicht, in diesem Zusammenhang den ehrwürdigen Begriff der »Weisheit« zu bemühen, also das alte Ziel der Philosophie, durch richtiges Denken und Handeln ein gutes Leben zu erlangen. Das kann nur gelingen, wenn der Mensch das Maß aller Dinge bleibt, statt sein Denken und Handeln von Maschinen bestimmen zu lassen. Nowotny erinnert daran, dass wir heute eine Umwälzung erleben, die eigentlich schon mit der Industrialisierung begann und sich mit der Automatisierung von Produktionsabläufen fortsetzte. Damals wurde körperliche Arbeit auf Maschinen übertragen, heute delegieren wir intellektuelle Tätigkeiten an Computer. Dabei ähneln sich die sozialen Anpassungsprobleme: Eintönige menschliche Arbeit verschwindet, verfeinerte Fähigkeiten sind gefragt. So wenig wie seit damals die Arbeit komplett verschwunden ist, so wenig wird das menschliche Denken durch die Digitalisierung obsolet. Die Arbeitswelt wandelt sich weiter.

Dabei ist der gegenwärtige technische Wandel in der Art und Weise, wie er unser Denken und unsere Sinne unmittelbar erfasst, etwas völlig Neues. Wir leben laut Nowotny in einer Spiegelwelt. Die audiovisuellen Medien, die digitale Vernetzung, die künstlich-intelligenten Gaukeleien erzeugen eine zweite, virtuelle Realität, in der wir uns erst einmal mühsam zurechtfinden müssen: Was ist Tatsache, was ist Fake?

Künstliche Intelligenz und die großen Firmen

Erschwert wird die Suche nach der Wahrheit in der Spiegelwelt durch die sozialen Bedingungen, unter denen die künstliche Wirklichkeit fabriziert wird. Die Digitalisierung und die KI sind weitgehend im Besitz weniger großer Firmen, die bestrebt sind, den Absatz ihrer Produkte zu maximieren – das heißt, sie konkurrieren mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kunden. Zugleich hüten sie eifersüchtig den Besitz ihrer technischen Vorsprünge, indem sie diese durch Patente schützen. Das bedeutet: Die disruptive Technik bleibt opak; sie sträubt sich gegen Regulierung. Eine gesellschaftliche Kontrolle der künstlichen Intelligenz, wie sie die Europäische Union durch den »AI Act« anstrebt, wird es schwer haben.

Da Nowotny ihre wissenschaftssoziologische Analyse für diese Ausgabe historisch vertieft hat, schadet es nicht, dass die englische Version ihres Buchs schon 2021 erschienen ist. Damals stand die Welt unter dem Schock der Covid-19-Pandemie, und die Autorin betont, wie die Lockdowns die Verlagerung von Büroarbeit ins Homeoffice und damit generell die Digitalisierung beschleunigt haben. In einem ausführlichen Vorwort zur deutschen Übersetzung geht Nowotny auf die laufenden Entwicklungen der KI ein, insbesondere auf das durch künstliche Sprachsysteme wie ChatGPT erzeugte Aufsehen. So bleibt das Buch hochaktuell.

Kritisch anzumerken wäre höchstens, dass Nowotny ein Steckenpferd reitet, dass sie schon in früheren Büchern ausgiebig traben ließ. Sie postuliert ein durch die neue Technik radikal verändertes Zeitverständnis: Die KI drohe die Zukunft mit immer präziseren Prognosen quasi zu verbauen, wodurch die menschliche Entscheidungsfreiheit einem digitalen Determinismus geopfert werde. Diese Sorge erscheint mir ganz unbegründet. Die heutigen Prognosen, sei es zum Klima oder zur Wirtschaft, sind höchst unzureichend und müssten noch viel besser werden, um eine solche Befürchtung als begründet erscheinen zu lassen.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Wer entscheidet? Wie das Gehirn unseren freien Willen beeinflusst

Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? Haben wir einen freien Willen? Diese Fragen beschäftigt Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der erste Artikel zum Titelthema zeichnet die Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung nach und zeigt, wie das Gehirn das subjektive Erleben formt. Anschließend geht es im Interview mit dem Neurophilosophen Michael Plauen um die Frage, ob wir frei und selbstbestimmt handeln, oder nur Marionetten unseres Gehirns sind. Die Antwort hat Konsequenzen für unser Selbstbild, die Rechtsprechung und unseren Umgang mit KI. Daneben berichten wir, wie virtuelle Szenarien die traditionelle Psychotherapie erfolgreich ergänzen und vor allem Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen lindern können. Ein weiterer Artikel beleuchtet neue Therapieansätze bei Suchterkrankungen, die die Traumata, die viele Suchterkrankte in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, berücksichtigen. Zudem beschäftigen wir uns mit der Theorienkrise in der Psychologie: Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer erklärt, warum die Psychologie dringend wieder lernen muss, ihre Theorien zu präzisieren.

Spektrum Kompakt – Demokratie unter Druck

Inmitten zahlloser Krisen verliert ausgerechnet die Demokratie an Zustimmung. Emotionale Polarisierung destabilisiert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, immer mehr Menschen wünschen sich autoritäre Führungspersonen. Hinzu kommt die Sorge, ob KI zur neuen Quelle von Fehlinformationen werden könnte.

Spektrum - Die Woche – Geopolitische Orientierungssuche am Amazonas

Klimakonferenz: COP30 in Belém zeigt die geopolitische Neuordnung – die USA fehlen, China muss Position beziehen. Wer zahlt für den Regenwald? Und warum sorgt ein Fonds für Streit? Außerdem in »Die Woche«: Die Eisbachwelle macht schlapp, CO₂ soll in den Meeresboden und die Geschichte der Toilette.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.