»Die kürzeste Geschichte der Wirtschaft«: Von Fortschritt, Märkten und Wohlstand
Der Titel des Buchs hält, was er verspricht: Auf nur 227 Seiten präsentiert es die Historie des menschlichen Fortschritts, der Entwicklung wirtschaftlicher Kräfte und der Gedanken zur Ökonomie. Sein Autor Andrew Leigh war Wirtschaftsprofessor an der Australian National University. Als Mitglied der Labour Party hat er in Australien verschiedene politische Funktionen inne. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, mit »Die kürzeste Geschichte der Wirtschaft« liegt nun die erste Übersetzung eines seiner Werke ins Deutsche vor.
Leigh zeigt, wie sich Marktmechanismen durch die Geschichte ziehen. Dabei macht er zwei treibende Kräfte für den wirtschaftlichen Wandel aus: technische Entwicklungen und politischen Willen. Technologische Transformation führte häufig zu einer Steigerung der Produktivität, etwa im Kontext von industrieller Revolution oder Digitalisierung. Politische Entscheidungen sorgten jeweils für die Abgrenzung oder Öffnung von Märkten. So erhöhte Großbritannien 1815 die Zölle auf Getreideeinfuhren, um die einheimische Landwirtschaft zu schützen. Die Liberalisierung des Welthandels war ein Ziel nach dem Zweiten Weltkrieg. Das 1947 geschlossene »Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen« (GATT) sollte den internationalen Handel regulieren und Zölle abbauen.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Manches kommt einem recht bekannt bevor, etwa wenn der Autor über Kreuzzüge, Kolonialismus oder Migration schreibt. Produktiv ist sein Ansatz, die Historie aus der Perspektive der Wirtschaft zu betrachten. Den Schwerpunkt legt Leigh auf die ökonomische Entwicklung im 20. Jahrhundert. Auch die wirtschaftlichen Implikationen aktueller Themen wie Coronapandemie, KI oder Klimawandel erläutert er. Dabei setzt er überraschende Akzente; so unterstellt er Marktversagen, wenn Umweltverschmutzung für Unternehmen profitabel ist, während sie dem Planeten schadet.
Immer wieder zeigt der Verfasser auf, welche unmittelbaren Auswirkungen die wirtschaftliche Situation auf das Leben der Menschen hatte, und belegt dies mit Angaben zu Lebenserwartung, Versorgungslage und Kindersterblichkeit. Anschaulich schildert er die Zustände in britischen Arbeitshäusern im 19. Jahrhundert – Einrichtungen, in denen Bedürftige in Großbritannien leben mussten.
Das Buch widmet sich nicht nur der Historie wirtschaftlichen Handelns, sondern auch der Entstehung und Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften. Leigh stellt die Theorien führender Wirtschaftswissenschaftler vor. Es ist ihm wichtig, deren jeweilige Persönlichkeit lebendig zu vermitteln. Besonders eindrücklich gelingt die Gegenüberstellung der Theorien von John Maynard Keynes (1883–1946) und Friedrich August von Hayek (1899–1992). Während Keynes dem Staat die Aufgabe zuschrieb, wirtschaftliche Schwankungen zu glätten, war Hayek gegen staatliche Eingriffe und setzte auf marktwirtschaftliche Mechanismen.
Lehren für den Alltag
Selbstverständlich dürfen neuere Entwicklungen nicht fehlen, etwa die Verhaltensökonomie, die Abweichungen menschlichen Verhaltens vom klassischen Konzept des Homo oeconomicus untersucht. Einer ihrer Begründer war Daniel Kahneman (1934–2024). Er erhielt 2002 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, der nicht zu den klassischen Nobelpreisen zählt, wie Leigh aufklärt.
Wer das Leben aus der Sicht eines Wirtschaftswissenschaftlers betrachte, könne, so Leigh, davon im Alltag profitieren. Wer etwa vor einer Entscheidung stehe, könne dafür Kosten und Nutzen abwägen. Welcher Nutzen entgeht einem, wenn man sich für eine Option unter verfügbaren Alternativen entscheidet? Investiert man in eine Ausbildung, wenn das zu zeitweiligem Einkommensverlust führt (Opportunitätskosten). Oder man fragt nach dem Grenznutzen: Hat man noch den gleichen Genuss, wenn man an einem Sommertag sofort nach dem ersten Eis ein zweites oder drittes verspeist?
Leigh macht es dem Leser leicht, seinen Ausführungen zu folgen. Es gelingt ihm, Komplexität zu reduzieren – auch weil er keine einzige mathematische Formel bemüht. »Die kürzeste Geschichte der Wirtschaft« ist ein lehrreiches und anregendes Buch. Man begreift, dass es in der Wirtschaft immer um die Verteilung knapper Ressourcen und die materiellen Bedürfnisse von Menschen geht – in der Vergangenheit und auch in der Zukunft.
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