Direkt zum Inhalt

»Die nächste Stufe der Evolution«: Der Glaube an das Gute in der Technologie

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Ray Kurzweil ficht das nicht an, er skizziert ein goldenes Zeitalter von KI und Nanotechnologie.

Ray Kurzweil ist »Director of Engineering« bei Google. Zudem hat er sich als Forscher zur künstlichen Intelligenz (KI) und mit Büchern zu künftigen technologischen Entwicklungen einen Namen gemacht. Ohne Zweifel: Kurzweil liebt Technik und Technologie. So ist das Zeitalter der künstlichen Intelligenz für ihn ein spannender und unumkehrbarer Weg in eine verheißungsvolle Zukunft. Sein Optimismus gründet vor allem in der Entwicklung der digitalen Datenverarbeitung: Rechenleistung und -geschwindigkeit sind in den letzten Jahrzehnten exponentiell angestiegen, und beide wurden gleichzeitig immer billiger. Ein sehr teurer Großrechner verfügte in den 1970er Jahren über deutlich weniger Leistung und Speichermöglichkeiten als ein heutiges Smartphone.

»Wenn Mensch und Maschine eins werden« lautet der Untertitel des Buchs, der damit seine zentrale These formuliert. Der Autor ist überzeugt, dass wir uns auf dem Weg in die »Singularität« befinden, dass sich also in Zukunft die menschlichen Hirnfunktionen und unsere Intelligenz mit Computern verbinden und so extensiv nutzen lassen werden. Überaus optimistisch sagt Kurzweil voraus, dass es »einfache Gehirn-Computer-Schnittstellen« ermöglichen werden, »Krankheiten zu heilen und die gesunden Lebenszeiten der Menschen erheblich zu verlängern«. Überhaupt durchziehen das Buch zahlreiche sehr positive Vorhersagen. Sie basieren nicht zuletzt auf der Annahme, dass eine selbstlernende KI in Verbindung mit einer sich selbstentwickelnden Nanotechnologie alle Lebensbereiche durchdringen wird. Diese geradezu euphorische Sicht auf den technologischen Fortschritt stützt der Autor auf seine Bewertung und Beurteilung bislang vorliegender Daten und Analysen.

Das macht die Lektüre spannend, zeigt Kurzweil doch viele Anwendungsfelder und Möglichkeiten der rapiden technologischen Entwicklung auf. Seine Argumentation führt von einer Bestandsaufnahme des Status quo über Fragen nach der Intelligenz und ihrer »Neuerfindung« bis hin zu mehr oder weniger konkreten Vorhersagen über die »Zukunft der Arbeitsplätze« und KI-basierte Anwendungen im Gesundheitswesen. Praktisch alle Lebensbereiche würden von dieser Technologie durchdrungen, so Kurzweil. Hier zeigt sich der Autor sehr technikgläubig, gleichzeitig haben viele seiner Vorhersagen eher den Charakter von Vermutungen.

Auch mit Blick auf die möglichen Erfolge der Nanotechnologie bei der Behandlung von Krankheiten bleiben viele Fragen offen. Selbst wenn es möglich wäre, durch gezielte Änderungen von Molekülstrukturen in Körperzellen positive Veränderungen zu bewirken, bleibt unklar, wem diese Innovation überhaupt zugutekommen könnte. Es ist kaum zu erwarten, dass solche Verfahren, die überaus komplex und sehr kostspielig sind, jedem der acht Milliarden Menschen auf der Erde zur Verfügung stünden. Bereits konventionelle moderne medizinische Behandlungsmöglichkeiten sind vielerorts nur wenigen Patienten zugänglich.

Hilfe oder Überforderung?

Dabei reichen Kurzweils Zukunftsfantasien noch viel weiter. So schwärmt der Autor von der »Fähigkeit [...], das, was uns im Wesentlichen ausmacht, irgendwo als Sicherheitskopie abzulegen«. Damit würde unser »biologischer Neokortex« mit »realistischen Modellen des Neokortex in der Cloud« ergänzt. Und »ein Back-up von uns« führe dazu, dass es fraglich würde, ob wir überhaupt noch sterben werden. Ob dies alles so eintreten wird, weiß heute natürlich niemand. Und ob dadurch »unser Leben exponentiell besser« wird, darf bezweifelt werden.

Unklar bleibt ebenfalls, ob uns eine enorme Zunahme an verwendbarer Gehirnkapazität durch eine Verbindung mit technischen Apparaturen im Alltag wirklich helfen würde – oder eher eine geistige und emotionale Überforderung zur Folge hätte. Sehr fraglich ist auch, ob die extensive Anwendung von KI – wie von Kurzweil behauptet – das menschliche Leben im Wesentlichen verbessern würde; mit Blick auf den heute schon erfolgenden Einsatz von intelligenten Drohnen in militärischen Auseinandersetzungen kommen einem hier erhebliche Zweifel. Und dann ist da noch Kurzweils Vorstellung, dass »normale Materie in Computronium umgewandelt wird«. Auch dies ist eher eine Fantasie denn eine Prognose, denn der Begriff »Computronium« bezeichnet eine hypothetisch angenommene programmierbare Materie und bleibt damit reichlich unkonkret.

Insgesamt lohnt sich die Lektüre dennoch, denn das Buch schildert viele spannende Aspekte und Möglichkeiten technologischer Entwicklung und regt so zum Nachdenken über die Zukunft an. Dass dabei viele wichtige Fragen offenbleiben, ist angesichts der Detailliertheit von Kurzweils Prognosen nicht verwunderlich.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Wer entscheidet? Wie das Gehirn unseren freien Willen beeinflusst

Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? Haben wir einen freien Willen? Diese Fragen beschäftigt Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der erste Artikel zum Titelthema zeichnet die Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung nach und zeigt, wie das Gehirn das subjektive Erleben formt. Anschließend geht es im Interview mit dem Neurophilosophen Michael Plauen um die Frage, ob wir frei und selbstbestimmt handeln, oder nur Marionetten unseres Gehirns sind. Die Antwort hat Konsequenzen für unser Selbstbild, die Rechtsprechung und unseren Umgang mit KI. Daneben berichten wir, wie virtuelle Szenarien die traditionelle Psychotherapie erfolgreich ergänzen und vor allem Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen lindern können. Ein weiterer Artikel beleuchtet neue Therapieansätze bei Suchterkrankungen, die die Traumata, die viele Suchterkrankte in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, berücksichtigen. Zudem beschäftigen wir uns mit der Theorienkrise in der Psychologie: Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer erklärt, warum die Psychologie dringend wieder lernen muss, ihre Theorien zu präzisieren.

Spektrum der Wissenschaft – Dunkle Energie - ein Trugbild?

Eine geheimnisvolle Kraft treibt alles im Universum immer schneller auseinander. Doch niemand weiß, was hinter dieser Dunklen Energie steckt, und neue Messdaten mehren grundsätzliche Zweifel am kosmologischen Standardmodell. Bieten alternative Ansätze eine Erklärung? Außerdem: Neue Verfahren erlauben es, Immunzellen direkt in unserem Körper so zu verändern, dass sie Krebszellen attackieren – bisher mussten sie Patienten dafür entnommen und wieder zurückgeführt werden. Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie beruhen auf unvereinbaren Weltbildern. Neue Experimente an der Schnittstelle zwischen Quantenphänomenen und Gravitation sollen helfen, diesen Widerspruch zu überwinden. In der Pangenomik wird das Erbgut zahlreicher Individuen verglichen – mit weitreichenden Folgen für Forschung und Züchtung von Nutzpflanzen. Und wie immer in der Dezemberausgabe berichten wir vertieft über die Nobelpreise des Jahres für Physiologie oder Medizin, Physik und Chemie, ergänzt durch einen kritischen Blick darauf, welche Verantwortung mit großen Entdeckungen einhergeht.

Spektrum - Die Woche – Alzheimer-Biomarker bei Neugeborenen entdeckt

In dieser »Woche« geht es um überraschende Befunde aus der Alzheimerforschung: Warum Neugeborene auffallend hohe Konzentrationen eines bekannten Biomarkers im Blut tragen – und was das über die Plastizität des Gehirns verrät. Außerdem: Müssen wir dank KI bald nur noch halb so viel arbeiten?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.