Globalisierung nach griechischer Art
Unter »Hellenismus« versteht man üblicherweise den Zeitabschnitt zwischen 323 v. Chr. und 30 v. Chr. Es sind die Todestage zweier bedeutender antiker Persönlichkeiten: Im Jahr 323 v. Chr. starb der makedonische König Alexander der Große, der nach nur 13 Jahren Regentschaft ein riesiges Reich hinterließ. Und 30 v. Chr. soll eine Schlange dem Leben Kleopatras VII., der berühmten ägyptischen Königin, ein Ende gesetzt haben. Mit Kleopatra verschwand das letzte Reich der Diadochen – jener Herrscher, die das von Alexander eroberte Territorium unter sich aufteilten und verwalteten.
In den rund drei Jahrhunderten dazwischen prägte die griechische Kultur weite Teile der bis dahin bekannten Welt Europas, Afrikas und Asiens. Dieser kulturelle Einfluss erlosch allerdings nicht mit dem Tod Kleopatras. Deshalb ist es folgerichtig, wenn der griechische Althistoriker Angelos Chaniotis in seinem Buch die gängigen Begrenzungen des Hellenismus aufbricht und ein »langes hellenistisches Zeitalter« bis weit in die römische Kaiserzeit – nämlich bis zum Tod Kaiser Hadrians 138 n. Chr. – dauern lässt. Erst durch diese zeitliche Verschiebung entfaltet der Hellenismus im Rückblick seine gesamte kulturelle Wirkmacht hinaus. Denn das »immense politische Netzwerk«, das durch die Eroberungen Alexanders entstanden war, sorgte für überregionale Beziehungen, Migrationsbewegungen und kulturellen Austausch in einem Gebiet, das nahezu die gesamte bekannte Welt bis an die Westgrenzen Chinas einschloss. Das römische Imperium vereinte weite Teile davon sogar in einem Reich.
Verworrenes Geschehen
Chaniotis zählt zu den profundesten Kennern der hellenischen Epoche. Nach Stationen an der Universität Heidelberg und in Oxford lehrt der griechische Althistoriker seit 2010 in Princeton. Etwa die Hälfte seines Buchs gibt eine Geschichte des Hellenismus wieder, welche – beginnend mit Alexanders Weg zum Thron – die politischen Geschehnisse vor allem im griechischen Kernland und im östlichen Mittelmeergebiet nachzeichnet. Es ist nicht immer leicht, den Überblick über die damals stark fragmentierte Landschaft einzelner Poleis, Königreiche, Städtebünde und anderer Machtblöcke zu behalten, die das griechische Kernland ebenso wie Kleinasien, das ägyptische Ptolemäerreich und das östliche Mittelmeergebiet bis nach Babylon prägte. Kriege, lose Bündnisse und wechselhafte Gegnerschaften prägten die Epoche. Die dynastischen Familientragödien der Diadochen, bei denen nicht selten Geschwister heirateten oder Nachkommen aus Machtkalkül ermordet wurden, standen der Dramatik von »Game of Thrones« in nichts nach. Chaniotis gelingt es, mit einer sehr klaren Sprache diese verworrenen Geschehnisse zu ordnen und ihre rasche Abfolge übersichtlich wiederzugeben. Einige Konflikte nennt er lediglich, an anderen demonstriert er beispielhaft die meist unbeständigen Machtverhältnisse jener Epoche. Eine Zeittafel und mehrere Landkarten im Anhang helfen den Lesern, sich zu orientieren.
Besonders gelungen beschreibt der Autor den schleichenden Einfluss des Römischen Reichs. Als Bündnispartner verschiedener griechischer Parteien wurde die aufstrebende Supermacht zunächst fast dazu gezwungen, in den Osten zu expandieren, griff dann aber umso entschlossener zur Vorherrschaft. Regionale Konflikte mit großer Wirkung, etwa die Auseinandersetzungen zwischen Rom und dem kleinasiatischen König Mithridates, leuchtet Chaniotis sehr genau aus. Nebenbei beschreibt er die machtpolitischen Entwicklungen im römischen Imperium, die in Form der Kaiser schließlich Alleinherrscher hervorbrachten, welche im Osten kultisch verehrt wurden. Umgekehrt finden sich etwa in Nero oder Hadrian leidenschaftliche Bewunderer der griechischen Kultur unter den römischen Kaisern.
Vor allem aber die zweite Hälfte des Werks setzt für eine Geschichte des Hellenismus ganz neue Maßstäbe. Bereits zu Beginn schiebt Chaniotis zwei Kapitel in die chronologische Abhandlung ein, in denen er die nebeneinander existierenden politischen Systeme der damaligen griechischen Welt mit ihren unterschiedlichen Regierungsformen beschreibt und näher auf die damit verbundenen Verwaltungsformen eingeht. Besonders der Gegensatz zwischen dem Königtum in Makedonien, den Diadochenreichen und den eher demokratisch ausgerichteten Stadtstaaten steht hierbei im Vordergrund.
Im letzten Drittel des Buchs betrachtet der Autor die Entwicklung einzelner gesellschaftlicher Bereiche über die komplette hellenistische Zeit hinweg. So beschreibt er den hierarchischen Aufbau der Gesellschaft und die Möglichkeiten, sozial aufzusteigen – etwa durch Nähe zu einflussreichen Personen oder durch Bildung. Eingehend widmet er sich der Situation von Frauen, die zumindest bei entsprechendem Wohlstand zunehmend in den Vordergrund rückten, und von Sklaven. Weiterhin geht er auf kulturelle und religiöse Prozesse ein, unter anderem die Entwicklung des Festwesens. Wie sehr die hellenistische Geschichte als eine globale betrachtet werden kann, führt der Althistoriker etwa an dem Einfluss einzelner Kulte vor, die an ganz verschiedenen Orten des östlichen Mittelmeerraums entstanden und häufig überregional Anhänger fanden. Griechische Einflüsse prägten viele lokale Traditionen an ganz anderen Orten, wie beispielhaft die griechisch-indische Mischkultur in Gandhara zeigt.
Chaniotis' Quellen decken die komplette Palette der Altertumswissenschaften ab. Nicht nur von griechischen, römischen und jüdischen Geschichtsschreibern sowie Literaten bezieht er seine Informationen, sondern auch aus Inschriften, Münzen, archäologischen Hinterlassenschaften und Kunstwerken, die teils abgebildet sind. Beeindruckend kenntnisreich verbindet der Althistoriker chronologische Erzählungen und thematische Analysen zum vermutlich auf Jahre hinaus besten Überblickswerk in Sachen Hellenismus. Dabei ist das Buch sowohl für Experten, die zusätzlich von der umfangreichen Bibliografie profitieren, als auch für interessierte Laien ein Gewinn – woran der Übersetzer Martin Hallmannseckers großen Anteil hat.
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