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»Die Superkraft der Pflanzen«: Waldbaden ist kein Kitsch

Der Blick auf Bäume wirkt ebenso entspannend wie der Duft von Rosen. Wie die Begegnung mit der Natur unserer Gesundheit nützt, erläutert und belegt Kathy Willis.

Schon lange vor der Entwicklung unserer hochgerüsteten Schulmedizin haben sich Menschen mit natürlichen Mitteln zu helfen gewusst. Kathy Willis, Professorin für Biodiversität an der University of Oxford, stellt alternative Heilverfahren vor, die schulmedizinische Methoden nicht abschaffen, sondern ergänzen sollen. Dabei geht sie streng wissenschaftlich vor und bezieht sich nur auf professionell erstellte Studien, vielleicht, um dem Vorwurf der Unseriösität zuvorzukommen. Systematisch arbeitet sie sich durch all unsere Sinne und stellt Materialien oder Verhaltensweisen vor, von denen wir gesundheitlich profitieren können. Die Farbe Grün spielt dabei eine große Rolle.

Einer ihrer Befunde lautet: Wenn Schüler aus dem Fenster auf Bäume blicken können, sind sie wesentlich entspannter und stressresistenter, als wenn sie auf eine Betonwand schauen. Denn schon das Betrachten von Baumbildern oder anderer Fotos grüner Natur senkt nachweislich das Stressniveau. Ein Pionier dieser grünen Tradition ist Japan, wo schon seit Anfang der 1990er Jahre das auch inzwischen im Westen bekannte »Waldbaden«, also ein Aufenthalt im Wald, auf Rezept verschrieben wird. Dabei betont die Autorin, dass man sich, sofern man die Wahl hat, für einen Spaziergang in einem Nadelwald entscheiden sollte. Tannen bestechen nicht nur durch ihr Grün, sondern auch durch ihren Duft, der schon neugeborene Babys – experimentell nachgewiesen! – entspannen lässt. Zum Thema Riechen erfährt der Leser, dass Rosenduft uns entspannt und eher unfallfrei Auto fahren lässt, wohingegen Zibetgeruch einen aggressiven Fahrstil begünstigen soll.

Auch die Geräusche, denen wir täglich ausgesetzt sind, behandelt Willis ausführlich. So führe das Hören von Naturgeräuschen bei Versuchspatienten zu einer Verbesserung ihrer Beschwerden von 184 %, etwa bei Schmerzen, Bluthochdruck oder Depressionen. Zudem empfiehlt sie die Berührung von Pflanzen, wobei besonders das Efeublatt zur Entspannung beitragen soll. Konsequenterweise gibt es nun auch die Gartentherapie, die laut Studien erfolgreicher ausfällt als die kognitive Verhaltenstherapie und natürlich viel preisgünstiger ist. Allerdings lehnt Willis Gärtnern als Schulfach ab, weil Kinder und besonders Jugendliche dabei eine Antihaltung entwickeln könnten, müssten sie über Stiefmütterchen und Rosendüfte Klausuren schreiben. Aber nicht nur von lebendigen Pflanzen können wir profitieren. Probanden zeigten sich auch wesentlich entspannter beim Berühren von Holz als beim Kontakt mit allen anderen Materialien. Und sogar das Betrachten von Holzpaneelen auf einem Computerbildschirm ließ das Stressniveau sinken.

Natur für alle Sinne

Das große Engagement der Autorin für ihr Thema belegen auch persönliche Anekdoten und die direkte Ansprache der Leser. Auch Institutionen, Politikern und Stadtplanern macht sie viele Handlungsvorschläge. So empfiehlt sie für Klassenräume eine »Grüne Wand«: ein Regal, das vom Boden bis zur Decke mit Topfpflanzen bestückt ist, was die Luft reinigt und laut Studien die Laune und Konzentrationsfähigkeit der Schüler verbessert. Für Grünanlagen, die von jedem Menschen maximal fünfzehn Gehminuten entfernt sein sollten, wünscht sie sich einen Lageplan, der es den Besuchern ermöglicht, ihren Spaziergang nach visuellen, akustischen und olfaktorischen Reizen zu planen.

Willis beschreibt manchmal sehr detailliert, wie wir diese Reize aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten, wie unsere Sinnesorgane aufgebaut sind und welche biochemischen Prozesse sich bei der Wahrnehmung abspielen. Auf der anderen Seite überrascht sie mit unterhaltsamem Nischenwissen; etwa damit, dass die alten Römer Konfetti aus Rosenblättern herstellten oder die alten Ägypter in die Körperöffnungen von Verstorbenen Zimt stopften, um den Leichengestank zu übertünchen. Aber sie liefert auch viele praktische Tipps dazu, wie wir unseren Garten und sogar unsere Wohnung und somit unser Leben biodiverser umgestalten können, wovon dann das Immunsystem und unsere Gesundheit nur profitieren können. Sie schließt mit dem Appell an ihre Leser, die Natur zu schützen und zu stärken. Denn wir bräuchten sie viel dringender als sie uns.

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