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Riesenzunge und Minihirn

Seine Zunge ist 60 Zentimeter lang, er bewegt sich mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 200 Meter pro Stunde und sein Gehirn ist gerade einmal so groß wie eine Erbse. Trotzdem oder gerade deswegen hat der Große Ameisenbär (Myrmecophaga tridactyla) das Herz von Lydia Möcklinghoff erobert. Seit vielen Jahren arbeitet die Zoologin nun schon im Pantanal, einem der größten Binnenland-Feuchtgebiete der Erde und einzigartigen Naturparadies, das in Brasilien liegt.

Feldforschung sei kein Urlaub in exotischen Ländern, wie viele vielleicht annehmen, betont die Autorin. Forscher und Artenschützer investieren viel Zeit und Herzblut in ihre Arbeit. Belohnt werden sie mit seltenen, aber überwältigenden Glücksmomenten. Ein Tourist hatte Möcklinghoff beispielsweise auf Kratzer an einem Baum aufmerksam gemacht. Von da an tauchten diese Spuren überall auf. Als weltweit Erste nahm die Forscherin mit ihren Kamerafallen auf, wie Ameisenbären an Bäumen schnüffeln, sich in der Rinde festkrallen, den Stamm hinauf klettern und ihre Brustdrüsen daran reiben.

Kopfüber ins kleine Geschäft

Möcklinghoff erinnerte dieses Verhalten an Pandabären, die im Handstand urinieren, um die Bäume weiter oben zu markieren. Daran schnüffelnde Artgenossen bekommen den falschen Eindruck, der Urheber der Markierung sei deutlich größer als sie. Ist das auch die Intention der Ameisenbären? Der eine oder andere Leser mag sich hier fragen, wozu solche Forschung nütze und welche Rolle der Ameisenbär überhaupt spiele. Nun, die Tiere sind laut Weltnaturschutzorganisation stark gefährdet, und Verhaltensforschung trägt bedeutsam zu einem nachhaltigen Artenschutz bei. Niemand weiß, wie viele aus unserer Sicht "unwichtigen" Tierarten verschwinden dürfen, ohne dass ihr ganzes Ökosystem kippt.

Die Autorin beschreibt nicht nur ihre eigenen Artenschutzprojekte, sondern auch die von Kollegen. Beispielsweise von Jörn Ziegler, der bei der Organisation "First Aid for Wonderful Nature" arbeitet und sich für die Bergregenwälder Panamas engagiert. Die Wälder sind Unesco-Weltnaturerbe, Heimat der Naso-Indianer und bedroht durch eine kolumbianische Staudammfirma. Das Unternehmen verspricht den Naso zwar bessere medizinische Versorgung, Trinkwasser und Strom. Doch obwohl der Staudamm bereits fast fertiggestellt ist, hat sich für die Indigenen bisher nichts zum Guten verändert. Im Gegenteil: Ganze Dörfer fallen den Zugangsstraßen zum Opfer und der Lebensraum Fluss wandelt sich deutlich. Zahlreiche Fischarten verschwinden (bis zu 75 Prozent sind gefährdet), Algenblüten wuchern und Insekten gehen zugrunde. Das bedeutet weniger Nahrung für die in Flussnähe lebenden Vögel, Säugetiere und am Ende auch die Naso. Deshalb kämpfen sie schon seit Jahren für ihren Lebensraum und ihre Kultur, wobei Ziegler sie unterstützt. Die Indianer übergaben ihm nach einem Besuch ihren Königsspeer – und damit sehr viel Verantwortung.

Weniger Tiere wegen Klimawandel

Investoren, die Artenschutzprojekte unterstützen, sind rar. Das ist schlecht, da solche Vorhaben viel Geld kosten. Dies zeigt Möcklinghoff am Beispiel Grönlands. Nur wer Jahr für Jahr persönlich auf die Insel reist, kann beobachten, wie die Populationsstärken der Lemminge und ihrer Fressfeinde versetzt oszillieren – und wie der Klimawandel dieses Räuber-Beute-Verhältnis verändert. Weniger Schnee bedeutet weniger schützende Nester und damit eine eingeschränkte Fortpflanzung der Nager. Statt der üblichen vier bis fünf Jahre habe es bereits seit 15 Jahren kein massenhaftes Auftreten der Lemminge mehr gegeben, zeigten Arbeiten von Oliver Bechberger (University of Iceland) und Benoit Sittler von der Universität Freiburg. Infolgedessen brechen die Populationen von Hermelinen, Schneeeulen und Raubmöwen ein.

Das Buch zeichnet ein authentisches Bild heutiger Feldforschung. Es schildert viele spannende Begebenheiten, gespickt mit Informationen zur Kultur des jeweiligen Landes und kleinen Exkursen in die Ökologie und Evolution. Für Auflockerung sorgen amüsante Anekdoten, etwa vom Angriff eines männerfeindlichen Truthahns nach nächtlichem Toilettengang.

Mit Leidenschaft, Witz und Charme, allerdings einer mitunter sehr flapsigen Sprache wendet sich Möcklinghoff an kulturell und biologisch Interessierte – an Laien ebenso wie Artenschützer, Feldforscher und Abenteurer. Naturschutz geht schließlich alle an.

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