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»Die verborgene Tierwelt unserer Städte«: Die Fauna im Ökosystem Stadt

Wanderfalken und Uhus, Füchse und Marder – die tierische Vielfalt in der Stadt ist überraschend groß. Der Biologe Marco Granata hat einen Tierführer der besonderen Art geschrieben.

Fast ein Jahr lang hat der Autor in einer nicht näher genannten Großstadt in Italien gelebt. Aufgewachsen ist er dagegen »im Grünen am Fuß der Berge« im Susatal in Norditalien. Die Wildnis in der Heimat wollte er eigentlich nicht verlassen – aber im Laufe eines Jahres entdeckt er auch in der Stadt eine überraschend vielfältige Tierwelt und genießt schließlich die »Wildnis« dort.

Wie Wald oder Wiese ist auch die Stadt ein Ökosystem mit verschiedenen Lebensräumen: künstliche Orte (wie Straßen oder Häuser) ebenso wie naturnahe (etwa Blumenbeete und Straßenbäume) oder natürliche Lebensräume (zum Beispiel in Parks oder am Stadtrand). In großer Zahl sieht man häufige Arten, die in fast allen europäischen Städten leben (wie Straßentauben), aber auch wenig bekannte und seltenere Tiere, »die sich ebenfalls für ein Leben in der Stadt entschieden haben oder versuchen, dort zu überleben«. Für jede Art erläutert Granata mehr oder weniger ausführlich ihre Biologie und Verbreitung sowie ihre Rolle in der Stadtökologie. Aber auch ihre mögliche Gefahr für den Menschen und ihre Gefährdung nimmt der Autor in den Blick. Dabei greift er auch Themen wie Evolution, allgemeine Grundlagen der Zoologie und immer wieder auch das Artensterben sowie mögliche Maßnahmen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt auf.

Im ersten von drei Teilen beschreibt der Autor sehr eindrücklich unsere (zuweilen) heimlichen Mitbewohner zwischen Keller und Dach – vor allem Insekten. Sein erster tierischer Fund nach dem Einzug in die neue Stadtwohnung ist eine tote Kakerlake. Nicht nur als Leser empfindet man Ekel, auch den Autor überkam dieses Gefühl. Allerdings: Schaben seien ein »edler, uralter Stamm der Tierwelt«, der die letzten drei Massenaussterben auf der Erde überlebt hat. Beim Reinigen der Wohnung findet Granata in »häuslichen Habitaten« wie Küche, Badezimmer und Balkon weitere tierische Mitbewohner – zum Beispiel »geflügelte Eindringlinge« wie Fliegen und Stechmücken, die er als Überträger zahlreicher Krankheiten vorstellt. Oder er erklärt, dass Spinnen und Tausendfüßler, die »Raubtiere unserer Häuser«, eine Kontrollfunktion in Ökosystemen haben und so die Artenvielfalt fördern.

Die Hauskatze als Raubtier

Im zweiten Teil des Buchs schildert der Autor das »Leben und Sterben in der Stadt«, nachdem er tagsüber und auch nachts Straßen und Gärten erkundet hat. Er informiert über Tauben, den Spatzenschwund, Möwen – und Mauersegler: Diese faszinierenden Vögel verbringen fast ihr ganzes Leben im Flug, können mehrere Kilometer hoch fliegen und legen in ihrem Leben geschätzt eine Million Flugkilometer zurück. Allerdings werden sie auch immer seltener, unter anderem wegen fehlender Nistplätze an hohen Gebäuden. Er schreibt von »Aliens in den Bäumen« wie dem Halsbandsittich, der als Haustier in Europa eingeführt wurde und nun eine eingewanderte Art ist, die überlebensfähige Populationen gebildet hat. Angepasst an die Stadt haben sich auch viele Parkvögel wie Amsel, Meise oder Mönchsgrasmücke. Hauptgrund für die Verstädterung dieser Vögel ist, dass ihre natürlichen Lebensräume durch menschliche Nutzung immer kleiner und ungeeigneter werden. Doch auch in der Stadt sei die Vielfalt der Vögel bedroht, betont der Autor: durch ein »Raubtier«, das in Städten in hohen Dichten vorkommt – die Hauskatze. Bei nächtlichen Streifzügen begegnet der Biologe Tieren wie Fuchs, Dachs, Stein- und Waldkauz, aber auch Fledermäusen, deren Besonderheiten er sich ausführlich widmet: dem Jagen mit Echolotsystem, den enormen Insektenmengen, die sie vertilgen, und der Frage, warum sie als Virenüberträger prädestiniert sind und was wir Menschen damit zu tun haben.

Im dritten Teil »Urbane Wildnis« geht Granata auf Gewässer, Parks und Randbezirke ein. Dort kann man gefährdete Arten wie die Zwergdommel finden, aber auch invasive Arten wie den Ochsenfrosch. Der ist nicht nur sehr gefräßig, sondern überträgt auch Pilzkrankheiten auf andere Amphibien. 1992 »wurden invasive Arten erstmals als zweitgrößte Bedrohung für die Artenvielfalt eingestuft«. 2000 hat eine Arbeitsgruppe der IUCN (»International Union for Conservation of Nature«) eine Liste der 100 schädlichsten invasiven Arten weltweit herausgegeben: Neben dem Ochsenfrosch stehen auch Nutria, Tigermücke, Ratte und Hauskatze auf dieser Liste. Als größte Bedrohung für die Artenvielfalt gilt aber weiterhin der weltweite Verlust von Lebensräumen. Der beste Weg, Menschen für die Erhaltung der Biodiversität zu gewinnen, besteht nach Ansicht des Autors darin, »ihnen unmittelbares Naturerleben zu ermöglichen«. Daraus ergebe sich »Wissen um die Natur« und »fast unweigerlich die Liebe zu ihr«. Und ein Naturerlebnis sei auch in der Stadt möglich, wie er in seinem Buch ausführlich darlegt – nicht nur mit Straßentauben. Denn immerhin leben 55 % der Menschen weltweit in Städten, in Europa sind es sogar fast 75 %.

Das Buch ist kein traditioneller Naturführer, vielmehr beschreibt Marco Granata hier seine persönlichen Erlebnisse auf der Suche nach tierischen Mitbewohnern in einer Großstadt. Aber der Biologe liefert nicht nur fundiertes Wissen zu den einzelnen Tierarten, sondern auch Hintergrundinformationen und Erklärungen zu Themen wie Biodiversität, Artensterben und Naturschutz. Illustriert ist das Buch mit kleinen Zeichnungen; sie bilden zwar bei Weitem nicht alle besprochenen Tiere ab, aber Granata wollte ja ausdrücklich kein Bestimmungsbuch schreiben. »Die verborgene Tierwelt unserer Städte« ist eine Anregung, nach Tieren in der Stadt zu suchen, ihre Lebensräume wahrzunehmen und zur Erhaltung der Wildnis in Städten beizutragen. Ein lesenswertes Buch für alle, die sich für Tiere, aber auch für ökologische Zusammenhänge interessieren.

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