»Die Vermessung unserer Gefühle«: Gefühle haben keinen festen Ort
»Ich kann mit 30 Jahren kein Lehrbuch der Neurochirurgie verfassen; das versuche ich auch gar nicht«, schreibt Autor Jesús Martín-Fernández. Tatsächlich merkt man beim Lesen seines Buchs schnell, dass er Wort gehalten und kein klassisches Lehrbuch geschrieben hat. Die Kapitel folgen Tagebucheinträgen des Neurochirurgen und Neurowissenschaftlers, zudem tritt er selbst nicht als distanzierter Wissensvermittler auf, sondern ist eher Erzähler und mitunter sogar Protagonist einer mitreißenden Geschichte.
Es ist seine persönliche Geschichte; die Geschichte eines jungen spanischen Arztes, der gemeinsam mit dem renommierten Neurochirurgen Hugues Duffau und seinem Team die übliche Herangehensweise in der operativen Behandlung von Hirntumoren hinterfragt. Diese finde, so der Autor, in der Regel unter Narkose statt und konzentriere sich vor allem auf den Erhalt von Sprache und Bewegung der Patienten, nicht aber auf die Bewahrung von Emotionen. Zudem orientiere sie sich noch an der Vorstellung, bestimmte kognitive Fähigkeiten könnten bestimmten Gehirnarealen zugeordnet werden. Martín-Fernández führt den Leser zurück an den Ursprung dieser Vorstellung im 19. Jahrhundert; etwa zum bekannten Fall von Phineas Gage, dessen Hirnverletzung und deren Folgen man so deutete, dass Persönlichkeit und Emotionen im präfrontalen Kortex beheimatet sein müssten.
Voller Leidenschaft beschreibt der Autor, was man damals übersehen habe und warum die Lokalisierung von Hirnfunktionen als Ansatz zu kurz greife. Er plädiert dafür, das komplexeste Organ unseres Körpers endlich als Metasystem anzusehen, in dem alles miteinander verbunden sei – vor allem, wenn es darum geht, höhere kognitive Fähigkeiten wie Emotionserkennung und Sprache zu erklären. Es gebe für sie keinen fixen Ort im Gehirn, sondern höchstens kritische Punkte, die individuell nicht ident und durch die Neuroplastizität auch zeitlich variabel seien. Um diesem Metanetzwerk gerecht zu werden, hat Martín-Fernández mit seinem Team die ersten Wachoperationen an Hirntumorpatienten durchgeführt. Durch einen Test zur Emotionserkennung, den der Neurochirurg selbst entwickelt hat, und eine gleichzeitige Elektrostimulation der neuronalen Netzwerke wird dabei festgelegt, welche Gehirnregionen für die Gefühle des Patienten kritisch und daher aus chirurgischer Sicht zu meiden sind. Ebenso werden die weiteren kognitiven Fähigkeiten am wachen Patienten live getrackt, damit sich das Operationsteam einen individuellen und sicheren Weg für die Entfernung des Tumors bahnen kann.
Eine Revolution der Hirnchirurgie?
Martín-Fernández führt seine Erkenntnisse an vielen Fallbeispielen aus, die ihm auf seiner Reise durch Europa und Südamerika begegnet sind, während der er und sein Team ihre neuen Methoden vorstellten und illustrierten. Wenn der Neurochirurg über seine Patienten und Patientinnen schreibt, spürt man, was ihn als Arzt und Wissenschaftler antreibt: ihr Wohlergehen. Die vielen Anekdoten, die er liebevoll erzählt, lassen erahnen, dass er ihnen auch persönlich nahe gekommen sein dürfte. Immer wieder greift er das Beispiel seines Onkels auf, der nach der Entfernung seines Hirntumors, die nach der etablierten Methode unter Narkose erfolgte, nicht mehr die gleiche Liebe für Musik empfinden konnte. Sein Schicksal steht im Buch stellvertretend für die 30 Prozent der Hirntumorpatienten, die nach einem »normalen Eingriff« nicht mehr ihr gewohntes Leben aufnehmen könnten, wie Martín-Fernández betont. Außerdem weckte die Geschichte seines Onkels in ihm den Wunsch, als Neurochirurg etwas verändern zu wollen. »Niemals möchte ich sagen ›Mal sehen, wie der Patient aufwacht‹«, schreibt er und zitiert damit einen Satz, den er in seiner Ausbildungszeit oft gehört hat.
Der Autor plädiert nicht nur dafür, unser Gehirn als Netzwerk zu denken und bei jedem Patienten individuell zu ergründen, wie es funktioniert. Er wünscht sich auch eine stärkere Vernetzung der Neurochirurgie mit der Neurowissenschaft, der Physik und der Informatik. Auch zwischen Kunst und Naturwissenschaft schlägt Martín-Fernández viele Brücken – der Autor hat auch Komposition studiert. Unter den kreativen Metaphern, die er entwickelt, um das Metanetzwerk unseres Gehirns verständlicher zu machen, finden sich immer wieder Bezüge zur Musik. So betont er etwa, dass man das Gehirn ebenso wenig auf drei räumliche Dimensionen reduzieren könne wie Musik auf die Art und Weise, in der sie notiert wird. Außerdem ermutigt Martín-Fernández Studierende dazu, auch in der Neurowissenschaft ihre Gefühle und ihre Kreativität zuzulassen.
»Die Vermessung unserer Gefühle« ist ein beeindruckendes und berührendes Buch über unsere Emotionen, das Metasystem unseres Gehirns und die Gefühle eines mutigen jungen Arztes auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen. Es ist ein Buch, das auch die eigenen neuronalen Netzwerke und Gefühle »ins Schwingen bringt« und so nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Wege für einen reflektierten Umgang mit Wissenschaft eröffnet. Martín-Fernández erinnert uns daran, dass unser Wissen ebenso dynamisch ist wie unsere kognitiven Funktionen und dass es jederzeit unser aller Fragen und Ideen braucht, um den Phänomenen des Lebens gerecht werden zu können.
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