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Der verkannte Dschungel

Tropische Wälder haben das Leben sowie die Herkunft und die Umwelt des Menschen maßgeblich geprägt. Der Archäologe Patrick Roberts betrachtet ihre Einflüsse und ihre öffentliche Wahrnehmung aus unterschiedlichen Perspektiven.

Zwar wird uns immer dringlicher bewusst, dass sich durch die Abholzung von Regenwäldern die steigenden CO2-Mengen in der Atmosphäre nicht mehr natürlich speichern lassen. Doch während effektive Lösungen kaum in Sicht sind, ist es die Zerstörung unserer Lebensgrundlage durchaus.

Wenig beachteter Lebensraum

Der Anthropologe und Archäologe Patrick Roberts kritisiert, tropische Wälder würden in der Geschichtsschreibung wie in der öffentlichen Wahrnehmung oft an den Rand gedrängt. Ungeachtet unzähliger Produkte wie Gewürze, Hölzer, Latex und vielem mehr scheinen sie für manche Menschen aus nicht tropischen Breitengraden wenig Bedeutung zu haben. Zu Unrecht, wie der Autor in seinem Buch zeigt. Denn die Wälder haben sowohl das Leben auf der Erde als auch den Ursprung des Menschen maßgeblich beeinflusst. Und wie die Diskussionen um ihre wirtschaftliche Relevanz belegen, ist ihr Einfluss nach wie vor enorm.

Dazu schlägt Roberts in 14 Kapiteln einen weiten und durch eine Vielzahl von Belegen gestützten Bogen. Er behandelt zunächst 400 Millionen Jahre tropische Geschichte, in der die ersten Blütenpflanzen und vierbeinigen Landtiere entstanden. Er zeigt den Zusammenhang zwischen dem Fressverhalten der Dinosaurier und der Verbreitung von Bedecktsamern sowie die Entwicklung der ersten Säugetiere und letztlich des Menschen auf, für den die Tropen von Beginn an einen Lebens- und Wirtschaftsraum boten. Roberts' Betrachtung führt bis in die heutige Zeit der Globalisierung mit ihren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Wie der Autor argumentiert, stellte seit der viktorianischen Zeit für Historiker und Anthropologen häufig die Savanne den Kontext für die menschliche Evolution und die Entwicklung des aufrechten Gangs dar. Tropische Wälder galten im Überlegenheitsdenken neuzeitlicher Eroberer als wild und gefährlich, entsprachen nicht einer geordneten Struktur und schienen keine großflächig betriebene Landwirtschaft nach europäischem Vorbild zu ermöglichen. Allerdings sei die Umgebung, in der der Mensch sich entwickelte, eine abwechslungsreiche Mischung aus Wäldern, Seen und Graslandschaften gewesen.

Zwar ist diese Ansicht keineswegs neu, zeigt aber die Vielfalt der Herausforderungen für den frühen Menschen, die er nur durch Erfindungsreichtum meistern konnte. Unter Bezug auf Knochenfunde früher Homininen stellt der Autor sogar die Vermutung auf, die Entstehung des aufrechten Gangs könnte zwischen den Bäumen und nicht in der Savanne stattgefunden haben. In den tropischen Wäldern habe der frühe Mensch Roberts zufolge erstmals bewusst in seine Umwelt eingriffen, Pflanzenwachstum und die Verbreitung bestimmter Tiere gefördert. Diese Wälder seien also keineswegs lebensfeindlich für den Menschen gewesen.

Es konnten sogar Großreiche entstehen. Grundlegend für das Inkareich in Südamerika oder das asiatische Angkor Wat sei ein agrarbasiertes Städtewesen mit niedriger Besiedlungsdichte gewesen, das sich in die Fläche erstreckte. Roberts betont, dass viele Amazonasstädte noch beim Eintreffen der Europäer im 16. Jahrhundert geblüht haben. Untergegangen seien sie vor allem durch eingeschleppte Krankheiten, Versklavung, Mord und europäische Ausbeutung.

Auch heutige Dörfer an tropischen Flussufern lägen oft an Orten, an denen bereits seit Jahrtausenden Siedlungen existiert haben, erklärt Roberts. Das sei an archäologischen Funden und der speziellen Zusammensetzung der dortigen Pflanzenwelt sowie an der Bodenfruchtbarkeit ersichtlich.

Wenn es Roberts nur um die im Haupttitel thematisierten Wurzeln des Menschen ginge, wäre der relativ lange Weg von der Entstehung der Wälder über die Dinosaurier bis zu den ersten Säugetieren überflüssig. Doch er weitet die Perspektive und zeigt die immense Bedeutung der Wälder für das irdische Leben im Gesamten. Damit bewegt sich das Buch an der Schnittstelle von Naturwissenschaften, Paläontologie, Archäologie, Geschichte und Umweltschutz. Zudem will es den tropischen Wäldern offensichtlich auch eine aus Sicht des Autors oft zu kurz kommende Lobby verschaffen und die Notwendigkeit global verantwortlichen Handelns hervorheben.

Herausgekommen ist eine leicht verständliche, spannende und nachdenklich stimmende Lektüre für Leserinnen und Leser, die am Erdaltertum, der menschlichen Evolution sowie ethischen Fragen interessiert sind. Ein Namens- und Sachregister rundet das Buch ab. Die ebenfalls im Anhang befindliche schematische Übersicht zur Evolution des Lebens hätte allerdings etwas größer ausfallen dürfen.

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