»Digitale Ethik«: Zwischen Faszination und Gefahr
Täglich überschwemmen uns allerhand Daten, kommen neue Wunderversprechungen künstlicher Intelligenz (KI), die mehr und mehr unserer Aufgaben übernehmen, uns vielleicht aber auch ins Verderben führen. Wir amüsieren uns zwar über Videos von Kindern, die US-Präsident Trump und andere Prominente imitieren; aber gefährlich wird es, wenn Politpromis heikle Aussagen in den Mund gelegt werden, die Zuschauer für authentisch halten. Gefahren lauern überall im Netz: Fakenews, infizierender Spam, Infiltration unserer smarten Geräte, Identitätsdiebstahl und die vielfältigen Formen von Sexismus, Rassismus und Betrug. Es gibt zwar eine Fülle von Initiativen, Vorschlägen, Aufrufen et cetera, aber noch keine verbindliche Übereinkunft – erst recht nicht weltweit – dazu, mit welchen Regeln und Gesetzen all diesen Gefahren zu begegnen sei.
Vor diesem Hintergrund legt die Philosophin Dagmar Fenner ihre umfangreiche »Digitale Ethik« vor. Zu Recht mahnt sie im Vorwort, dass die »Technologieentwicklung« schneller zu sein scheint »als die menschliche Fähigkeit zur gründlichen Reflexion«. Ihr Werk ist als Lehrbuch konzipiert, das an Universitäten, Hochschulen und anderen weiterführenden Schulen eingesetzt werden kann. Und tatsächlich setzt es »weder ein Philosophiestudium noch Spezialkenntnisse in Informatik oder Angewandter Mathematik« voraus.
Fenners Ziel ist eine »durchgängige Systematik für das enorm vielschichtige Feld«. Diese bietet sie in drei großen Kapiteln, die in sich fein unterteilt sind, sowie einem kurzen »Schluss und Ausblick«. Sie startet mit einem ausführlichen ethischen Grundriss und erklärt zunächst einschlägige Begriffe, den kulturellen Hintergrund von Digitalisierung, Algorithmen und Polarisierung. Außerdem schildert sie den Einfluss von Sciencefiction und erläutert, warum Technik nicht neutral sein könne, um dann Ethik, Moral und Recht klar voneinander zu unterscheiden. Dann widmet sie sich den Hauptrichtungen der Ethik: dem Konsequenzialismus, dessen bekannteste Form der Utilitarismus ist, der Deontologie beziehungsweise Pflichtethik sowie der Tugendethik, die auf Aristoteles zurückgeht. Aus ihnen folgert sie ethische Leitideen für den Umgang mit Digitalisierung und KI: Freiheit, Glück und gutes Leben, Gerechtigkeit, Privatsphäre und Nachhaltigkeit.
Wenn Mensch und Maschine neue Einheiten bilden
Im Kapitel »Digitale Medienethik« kommen insbesondere Konflikte der Online-Kommunikation zur Sprache. Die Autorin übernimmt dabei Leitideen aus dem Journalismus – etwa Wahrhaftigkeit, Unvoreingenommenheit, Relevanz, Sensationslust sowie die Achtung von Persönlichkeitsrechten – und wendet sie auf einzelne Beispiele an. In Unterkapiteln nimmt sie Bezug auf den Nobelpreisträger Daniel Kahneman (»Schnelles Denken, langsames Denken«) und zeigt, wie man Informationsflut, Desinformation, Filterblasen, Online-Hassrede und Cybermobbing ethisch begegnen könnte.
Im Kapitel »KI-Ethik« benennt sie Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz und diskutiert ethische Fragestellungen im Zusammenhang mit Transparenz, Sicherheit und menschlicher Aufsicht über die KI. Fenner argumentiert entschieden gegen die Annahme einer Objektivität von Daten und warnt vor dem Verlust von Privatheit, vor Manipulation und einer algorithmischen Steuerung, die, wie in China praktiziert, in ein Sozialkreditsystem mündet. Sie erläutert den moralischen Status von Robotern und mögliche Dilemmata, die sich ergeben könnten, wenn Moral und Emotion in Robotersysteme und KI-Anwendungen ›einprogrammiert‹ würden. Schließlich blickt Fenner auf Chancen und Risiken vermehrter Mensch-Maschine-Interaktionen.
Der Blick aufs Ganze
Da diese Entwicklungen soziokulturelle Umwälzungen mit sich bringen, »reichen normative Empfehlungen zu einzelnen Technologien nicht aus«, schreibt die Autorin. Sie blickt sehr skeptisch auf die Überlegungen zu einer Superintelligenz mit Bewusstsein, selbst wenn diese erst als Sciencefiction am Firmament erscheint. Stattdessen seien »philosophisch-hermeneutische, anthropologische und ethische Reflexionen, z. B. über das spezifisch Menschliche und den moralischen Status von Entitäten« notwendig. Digitale Kommunikation und KI müssten den Menschen dienen, dürften sie aber nicht beherrschen, so Fenner weiter. Man müsse immer wieder die Frage nach dem »guten Leben« stellen. »Eine Ethik der Digitalisierung ist dringend erforderlich, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wer wir als Menschen sein wollen […] und wie wir dazu gelangen.«
Allerdings ist zu befürchten, dass sich weder die »Big Five« der US-amerikanischen Techbranche – gestärkt durch den Protektionismus eines Donald Trump – noch Autokraten in anderen Ländern um solche Überlegungen scheren werden. Dennoch: Fenners Buch ist ein absolut notwendiger Diskussionsbeitrag; es ist durchgehend sachlich, sehr gut begründet und verständlich geschrieben. Es folgt dem Prinzip, dass wir Menschen die Kontrolle über die Maschinen behalten sollten – und nicht umgekehrt. Es enthält eine enorme Fülle an systematisch verarbeitetem Material und bietet zu jedem Abschnitt Kästchen mit kurzen, klaren Zusammenfassungen. Eine ausführliche Bibliografie und ein Sachregister erleichtern die Orientierung und die Vertiefung einzelner Themen. Ein Lehrbuch im besten Sinne.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben