»Ein Bestiarium des Anthropozäns«: Ein faszinierendes Panoptikum unserer Schöpfungen
Dies ist ein in nahezu jeder Hinsicht seltsames Buch: gebunden, aber klein wie ein Taschenbuch; nicht schwarz auf weißes Papier gedruckt, sondern umgekehrt, wobei das Weiß – wie auch die Abbildungen – eher einen silbrig glänzenden Ton hat.
Der Inhalt gliedert sich in zwei etwa gleich lange Teile: in das eigentliche, bebilderte Bestiarium, und den überwiegend textlichen Teil mit zehn Essays unter dem Titel »Betrachtungen«. Zentrale Begriffe dieser Ausführungen sind »hybrid«, »Bestiarium« und »Anthropozän« – diese seien vorab erläutert.
»Ein Name, eine Abbildung, eine kurze Beschreibung und die moralische Bedeutung, so die kanonische Formel für Bestiarien, wie sie sich im Mittelalter entwickelt haben.« Heute ist der Ausdruck fast völlig vergessen. Er meinte ehedem formal eine Reihe von Tieren, die durch unsere(!) Schuld von der Schöpfung abwichen und potenziell gewalttätig bis todbringend sind. Da solche Wesen durch uns synthetisch (im Sinne von »unnatürlich«) verändert wurden, werden sie als »hybrid« bezeichnet und damit zum Kennzeichen für eine globalisierte Welt. Das Zeitalter ihres Vorkommens trägt auch eine eigene Bezeichnung: »Anthropozän«. Dieser Begriff wurde erst 2000 von den niederländischen Klimatologen Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer zur Diskussion gestellt, um einen Zeitraum zu charakterisieren, der durch den Menschen stärker verändert wurde als etwa durch die Eiszeiten. Im Buch hat man den Begriff über die Tiere hinaus auf Pflanzen und Pilze sowie Mineralien erweitert, die einst als die drei Naturreiche galten.
Den Spuren des Anthropozäns folgt das Buch nun anhand von Fossilien, die als Charakteristika eines geologischen Zeitalters gelten. Es präsentiert 13 Beispiele aus dem Reich der Mineralien, 37 aus dem Tier- und Pflanzenreich sowie 10 subsummiert unter »Sonstige«. Praktisch ausnahmslos werden hybride »Kreaturen« in Bild und Text vorgestellt – Geschöpfe, die auch in jedes mittelalterliche Bestiarium gepasst hätten. Es sind dies allerdings keine Einhörner oder siebenköpfige Schlangen mehr, sondern modernste Schöpfungen unseres Erfindergeistes. Nun wird es kurios, gruselig, schauerlich, nie erfreulich, bestenfalls gelegentlich amüsant.
Plastikmüll als neuer »Lebensraum«
Unter den »Mineralien« entdeckt man zum Beispiel Hühnerknochen aus der industriellen Massentierhaltung, die sich klar von denen normaler Haushühner unterscheiden lassen, Plastiaglomerate aus der Kunststoffproduktion überall an den Meeresküsten oder »Trinitit«, ein glasartiges Mineral als Überbleibsel der frühen Atombombenversuche in den USA.
Im »Reich der Tiere« finden sich Wasserläufer (Halobates sericeus): Insekten, die zu den Wanzen gehören, sich Muscheln, Vogelfedern oder Plastikmüll als neuen Lebensraum in den Meeren zur Eiablage ausgesucht haben. Sinnvoll sind wohl Forschungen an der Wachsmotte, Feind aller Imker, deren Raupen als »Plastikfresser« das weitverbreitete Polyethylen verdauen können. »Fistulierte« Kühe haben ein verschraubbares Loch mit dahinter liegendem Zugang zum Pansen, um Verdauungsvorgänge zu kontrollieren und Ernährungsforschung betreiben zu können. Sicherlich angenehmer sind Prothesen für Haustiere wie Hunde und Katzen, skurril ein Einsiedlerkrebs, der sich für seinen weichen Hinterleib je nach Körpergröße nach einer Häutung statt eines leeren Schneckenhauses den Sockel einer zerbrochenen Glühbirne sucht. Es gibt inzwischen Albatrosse, die über ein satellitengestütztes System die Koordinaten von Fischkuttern in verbotenen Gewässern anzeigen, weil sie sich dort gehäuft einfinden, oder Tauben, welche die Luftverschmutzung messen, sowie noch nicht ganz erfolgreiche Versuche mit Adlern zur Abwehr von Drohnen an gefährdeten Orten (auf dem Cover abgebildet).
Aus dem Pflanzenreich seien die allbekannten künstlichen Blumen genannt, radioaktive Pilze und der Kunstrasen vieler Sportplätze. Alle 60 Beispiele zeugen von einem enormen Einfallsreichtum, aber Freude kommt angesichts der Ergebnisse nicht auf – außer vielleicht bei Passagen wie der Betrachtung über Feralität (etwa »Verwilderung«), wo es um einen entwichenen Roboterstaubsauger geht, der »entfliehen« konnte, weil jemand die Haustür offen gelassen hatte.
Diese und andere »Betrachtungen« nehmen gut 60 Seiten sein. Die zehn Aufsätze von verschiedenen Autorinnen und Autoren haben einen mehr oder weniger klaren Bezug zum Bestiarium und arbeiten mit Überschriften wie »Über Klassifizierung«, »Über Künstlichkeit«, »Über negative Gemeingüter« und »Über Temporalitäten«. Alle sind rein wissenschaftliche Texte auf hohem, teilweise philosophischem Niveau und lassen sich, wie der des Hauptautors selbst, im Kontext von Technikanthropologie und Zukunftsforschung verorten.
Fazit: Auf diese Weise hat man die Gegenwart und ihre Hervorbringungen wohl noch nicht gesehen – eine interessante, aber ganz bestimmt keine leichte Lektüre.
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