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Marathon durchs Mittelalter

Monat für Monat beleuchtet dieses Buch die Lebenswelt des Mittelalters – und schlägt dabei überraschende Haken.

Wie lebten die Menschen im 12. Jahrhundert? Und zwar nicht nur die Angehörigen der Oberschicht, die dank ihrer Kenntnis des Lesens und Schreibens zahlreiche Schilderungen ihres Alltags hinterlassen haben – sondern auch jene, die mit ihrer täglichen Arbeit den Geistlichen und Adligen, den Herrschern und Stadtpatriziern ein begütertes Leben ermöglichten? Solche Fragen liegen im Trend der Forschung und treffen das Interesse einer geschichtshungrigen Leserschaft. Der Historiker und Journalist Tillmann Bendikowski beantwortet sie leichtfüßig plaudernd in diesem Band. Das ist die Stärke des Werks wie zugleich auch seine Schwäche.

Ordnungsbegriffe wie »Essen und trinken«, »Medizin« oder »Religion« sucht man im Inhaltsverzeichnis vergebens. Der Autor sortiert nach umfassenderen Themen wie »Im Lande unterwegs« – gemeint sind alle Arten des Reisens inklusive der Verkehrswege – oder »Zusammen leben« – Ausführungen zur (dienenden) Rolle der Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft samt Sexualität. Diese Themen ordnet Bendikowski den zwölf Monaten zu, was sein Versprechen, vom Alltag zu erzählen, noch einmal unterstreicht.

Oratores, Bellatores, Laboratores

Zu den gelungensten Kapiteln zählt zum einen das über den Mai. Anhand des Hoftags, den Kaiser Friedrich Barbarossa am 19. Mai 1184 in Mainz abhielt, erläutert es Grundlagen der Monarchie wie das Gottesgnadentum und die Lehnsherrschaft. Auch der Abschnitt über den Oktober überzeugt. Er trägt den Titel »Hungern, essen, träumen« und widmet sich den Bauern und ihrem harten Leben: Im Oktober waren die Ernten eingefahren und die Wintersaat ausgebracht.

Übergreifende Themen wie das Rechtswesen ordnet der Autor auch schon mal ohne erkennbaren Bezug einem bestimmten Monat zu (hier dem April). Mitunter erscheint die Anbindung erzwungen: »Es ist kalt im Januar. Wen die Umstände in die lebensfeindliche Winterwelt hinausgetrieben haben, der freut sich (…) über den Anblick eines Klosters.« Das Leben der Mönche steht im Fokus dieses Kapitels. Der Februar mit nicht minder harschem Wetter schlägt über das Thema Erkältung die Brücke zum mittelalterlichen Medizinwesen.

Der sich im März ankündigende Frühling gibt Anlass, die Möglichkeiten eines guten Lebens auszuloten. Dies führt den Autor zum Geldwesen, entlockt ihm allgemeine Betrachtungen zur Kleidung, von wo er über den Papstmantel einen erstaunlichen Spagat zum Heiligen Stuhl hinlegt, um später die Männerfantasien in den Minneliedern des Wolfram von Eschenbach aufs Korn zu nehmen und sodann über die biblische Eva ganz allgemein die Haltung zum Phänomen Schönheit anzusprechen.

Kapitel für Kapitel schwingt sich Bendikowski von einem Aspekt zum nächsten und schlägt dabei manchen Haken. Das birgt verblüffende Wendungen, offenbart vielerlei Zusammenhänge, bringt aber manchmal das Risiko mit sich, den Überblick zu verlieren und dem Autor atemlos nachzueilen. Vereinzelt wirkt Bendikowski wie selbst aus dem Tritt geraten, wenn er beispielsweise vergisst, wichtige Erklärungen zu liefern. So zeichnet er das zutreffende Bild von Hungernden, die vor Schmerzen schreien, weil sie Getreide verzehrt haben, das mit dem Mutterkornpilz kontaminiert war. Er erläutert aber nicht, warum Mutterkornvergiftungen – historisch als »Antoniusfeuer« bezeichnet – gerade bei Hungersnöten grassierten: Wird kontaminiertes Getreide über längere Zeit gelagert, zerfällt das Gift darin allmählich; in Hungerzeiten aber kam es frisch und folglich mit hohem Toxingehalt auf den Tisch. Im Februar-Kapitel, das von Medizin handelt, schreibt der Autor über kundige Mönche und studierte Ärzte, was den Eindruck erweckt, sonst habe es nur Scharlatane mit vermeintlich magischen Fähigkeiten gegeben. Das Gros der Heiler im 12. Jahrhundert aber waren Nichtakademiker wie Bader, Feldscherer und Hebammen.

Löst das Werk sein Versprechen ein, die Lebenswelt des 12. Jahrhunderts in ihrer ganzen Bandbreite aufzuzeigen? Insgesamt schon, mögen auch die Angehörigen der weltlichen und geistlichen Eliten überproportional viel Raum erhalten haben – doch so ist nun einmal die Quellenlage. Es wäre schön gewesen, über die Jahrhunderte davor und danach ebenfalls etwas zu erfahren, das hätte den Rahmen aber wohl gesprengt. Trotz kleinerer Mankos, die ihm in der Eile des Parforceritts unterlaufen sind, ist dem Autor ein lesenswertes und spannendes Buch gelungen.

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