Direkt zum Inhalt

Woher kommt die Moral?

Sprache und Denken müssen beim Frühmenschen einen kommunikativen und kooperativen Sinn gehabt haben, den man bei Primaten so noch nicht findet. Diese These vertrat Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, bereits 2014 in seinem Buch "Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens".

Daran schließt sein neues Werk an. Der Verhaltensforscher ist der Ansicht: Primaten kooperieren zwar ebenfalls gelegentlich, aber immer auf einer egoistischen Grundlage. Sie teilen nur notgedrungen, suchen vor allem den eigenen Vorteil, und es interessiert sie nicht, ob sich "Trittbrettfahrer" übermäßig bereichern.

Dagegen helfen bereits zwölf Monate alte Kleinkinder anderen auch dann, wenn sie selbst nicht davon profitieren, wie diverse Experimente gezeigt haben. Schon Säuglinge haben offenbar ein Verständnis für Gerechtigkeit und Gleichheit entwickelt und setzen sich frühzeitig gegen Nutznießer zur Wehr. Aus diesen (sicherlich begrenzten) empirischen Befunden folgert Tomasello, dass sich bereits die Frühmenschen vor rund 400 000 Jahren eine kooperative Moral aneigneten. Sie habe auf Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe beruht und sich entwickelt, weil sie bei der Nahrungssuche Vorteile gebracht habe. Eine solche Moral beinhalte sowohl Verpflichtungen als auch eine gerechte Verteilung der gemeinsam erworbenen Nahrung. Der Autor nennt das "zweitpersonale Moral".

Wertvorstellungen als Gruppenkitt

Vor rund 150 000 Jahren habe schließlich der Übergang zu einer Gruppenmoral begonnen. Daraus sei nicht nur ein gemeinsames Selbstverständnis entstanden, eine Art "objektive Moral" des Mitgefühls und der Loyalität, sondern es habe letztlich dazu geführt, dass sich unter unseren Vorfahren ein Gespür für "richtig" und "falsch" verbreitet habe.

Damit widerspricht der Leipziger Forscher der Vorstellung, dass sich Moral aus autoritären Strukturen entwickelt habe, indem Starke Schwache unterwarfen und sie zwangen, solche Verhältnisse nicht bloß anzuerkennen, sondern auch als moralisch gut zu begreifen. Im Gegensatz zu Nietzsche, der diese These vertrat, hält der Autor die Moral für ein Produkt des kooperativen Zusammenlebens. Sie diene keinem egoistischen Individuum. Stattdessen versuche sie, dieses auf einen gemeinschaftlichen kulturellen Weg zu bringen.

Es verwundert nicht, wenn sich Tomasello mit seiner evolutionären Moraltheorie auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) beruft, der dem Naturmenschen eine Art "moralische Anlage" attestierte. Oder wenn er die "Ideen kommunikativer Vernunft" von Jürgen Habermas bekräftigt: Moral habe ursprünglich einen kooperativen Sinn, auf den man sich auch heute stützen solle. Tomasellos Überlegungen über die Wurzeln dieser menschlichen Fähigkeit sind wissenschaftlich fundiert, nachvollziehbar und lesenswert.

Kennen Sie schon …

Spektrum der Wissenschaft – Vögel - Gefiederte Vielfalt

Die kognitiven Fähigkeiten von Vögeln erstaunen selbst Fachleute immer wieder. Wie schaffen es Vögel, trotz ihres winzigen Gehirns, Werkzeuge zu benutzen oder sich im Spiegel zu erkennen? Wie kam es zum Gesang der Vögel und was verbirgt sich dahinter? Wie kommt es zu den vielfältigen Farben und Mustern des Federkleids? Studien zur Embryonalentwicklung zeigen, auf welchen theoretischen Grundlagen die Farb- und Formenfülle im Tierreich beruhen. Und die Vorfahren der Vögel, die Dinosaurier, erwiesen sich als fürsorgliche Eltern.

Spektrum - Die Woche – Wie ich atme, so fühle ich

Ganz unbemerkt atmen wir täglich zirka 20.000-mal ein und wieder aus. Dabei ist das, was währenddessen in unserem Körper passiert, alles andere als banal. Und wird sogar von unserem Gemüt beeinflusst. Lesen Sie in der aktuellen »Woche«, wie die Teamarbeit von Hirn und Lunge gelingt.

Spektrum Kompakt – Verhaltensbiologie – Tierisch sozial

Vor allem in Haustieren sehen wir Persönlichkeitsmerkmale wie Mut und Neugier oder Verschlossenheit. Doch nicht nur Hund und Katze haben eine Persönlichkeit, auch im Aquarium und im Ozean verhält man sich gemäß Charakter. Denn eine Persönlichkeit zu besitzen ist keine menschliche Eigenheit.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.