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Rückkehr zum Piktogramm

Der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber (1864-1920) hat die Kulturentwicklung als einen Prozess der Entzauberung beschrieben: von der religiösen Aufladung der Naturgewalten zur rationalen kapitalistischen Buchführung. Doch Buchhalter benötigte man bereits vor über 5000 Jahren im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Die Region versinkt heute im Bürgerkrieg, dabei war sie – neben Ägypten – nicht nur die Wiege der abendländischen Kultur, sondern spielte auch in der Entwicklung der Schrift eine maßgebliche Rolle.

Beim Entstehen des geschriebenen Worts in Vorderasien stand die Buchhaltung im Vordergrund, wie Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor Martin Kuckenburg zeigt. Sumerer, Assyrer und Babylonier benötigten sie, um Fernhandel zu betreiben. Auch um die großen Städte an Euphrat und Tigris zu bauen, waren Instrumente der Dokumentation, der Datenspeicherung wie der angewandten Statistik erforderlich. Zunächst bedienten sich die Menschen dazu kleiner Tonformen und Täfelchen mit Markierungen und Zahlen. Ab etwa 3300 v. Chr. begannen sie damit, den Zahlen Bildsymbole hinzuzufügen, mit denen sich weitere Angaben machen ließen, etwa über Zeiten oder Personen. Hierin sieht der Autor den Anfang geschriebener Texte: "Der Wunsch zu zählen, nicht zu erzählen, war das ausschlaggebende Motiv für die Erfindung der Schrift in Vorderasien."

Notieren am Nil

Im Gegensatz dazu, so Kuckenburg, lagen den bildreichen ägyptischen Hieroglyphen vor allem religiös-politische Motive zu Grunde. Aus dem Land am Nil sind eine Fülle alter Schriften überliefert – von Liebesgedichten bis zu Gerichtsakten. Der Autor beleuchtet viele kulturelle Aspekte der Schriftentwicklung im alten Ägypten, etwa die Entstehung der ägyptischen Schreiberkaste, deren Vertreter bereits eine geregelte Ausbildung durchliefen. Die Tätigkeit als Schreiber konnte ihnen eine beamtenähnliche Anstellung, Ansehen und Vermögen einbringen.

Reich bebildert und üppig erläutert stellt das Buch die wichtigsten Etappen der Schriftgeschichte dar, von den Malereien in der Höhle von Lascaux bis zu den Smileys der Internetkommunikation. Schwerpunkte sind dabei die Keilschrift in Mesopotamien, die Hieroglyphen im alten Ägypten, die griechische Antike mit der Verbreitung der phonetischen Buchstabenschrift und das lateinische Alphabet. Der Schriftentwicklung während des Mittelalters bis zum Buchdruck im 15. Jahrhundert, vor allem der Differenzierung in Groß- und Kleinbuchstaben, räumt Kuckenburg erheblich weniger Platz ein. Die Schriftbildung in Asien, Mittel- und Südamerika behandelt er nur am Rande.

Auf Rollen dokumentiert

Als Leser erfährt man unter anderem, wie früher geschrieben wurde: in der Antike zunächst durch Ritzen in Ton und andere Materialien, später auf Papyrusrollen. Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. trat Pergament in den Vordergrund, das man aus Tierhäuten herstellte. An die Stelle meterlanger Rollen, in denen man nicht blättern konnte und die bei häufiger Benutzung auch schneller verschlissen, traten handlichere und robustere Pergamentbücher. Das Papier, eine chinesische Erfindung, verbreitete sich im christlichen Abendland erst im Hochmittelalter, nachdem es über die Araber nach Europa gelangt war.

Im Internetzeitalter, legt Kuckenburg dar, sei die Schrift mitnichten bedeutungslos geworden. Gebloggt, gechattet oder in sozialen Netzwerken kommuniziert werde vor allem schriftlich. Andererseits geschehe Kommunikation zunehmend über Bilder, nicht nur in Form kleiner Piktogramme, sondern auch mit Fotos aller Art. Dadurch kehre eine Art hieroglyphische Kommunikation zurück, die man längst hinter sich glaubte. Ob sie eines Tages in eine dominierende "Weltsprache" münden könnte, darüber spekuliert der Autor glücklicherweise nicht.

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