Buchkritik zu »Eiszeit«
Wo ich jetzt gerade schreibe, in einem Vorort von Hamburg, war vor rund 15000 Jahren nichts als Eis. Bei früheren Vorstößen reichten mächtige Gletscherfronten bis dorthin, wo heute Amsterdam, Düsseldorf und Dresden liegen. Auf dem Höhepunkt der Eiszeit lagen über dreißig Prozent aller Landflächen auf der Erde unter einem bis zu dreieinhalb Kilometer dicken Eispanzer begraben – heute sind es etwa zehn Prozent, hauptsächlich auf Grönland und dem antarktischen Kontinent. An geologischen Maßstäben gemessen, spielte das Drama des großen Eises in der jüngsten Vergangenheit der Erde. Entsprechend frisch sind noch seine Spuren. Dennoch taten sich die Forscher schwer damit, sie zu deuten. Der mühselige Weg zu einer Erkenntnis, die vielen Zeitgenossen lange Zeit völlig unannehmbar erschien, ist das Thema des New Yorker Journalisten Edmund Blair Bolles. Der Autor beschreibt die Irrungen und Wirrungen, bis das große Eis schließlich als Jahrhundert-Entdeckung anerkannt wurde. Viele trugen dazu bei, im Miteinander wie im Gegeneinander. Wer den Wissenschaftsbetrieb kennt, hat hinreichend Anlass zum Schmunzeln. Den Geologen ging es jedoch nicht nur um die üblichen Meinungsverschiedenheiten in Details, sondern um die Grundlagen ihres noch jungen Faches. Erste Bestandsaufnahmen der unterschiedlichen Landschaftsformen, der Gesteine und der darin enthaltenen Fossilien lagen bereits vor. Welche Schlüsse waren daraus über die Entwicklung der Erde zu ziehen? Anhänger einer Katastrophentheorie sahen, gestützt auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die Auswirkungen einer Serie gewaltiger Ereignisse, durch die unser Planet in nur wenigen tausend Jahren entstanden sein sollte. Vertreter des Aktualismus hingegen akzeptierten nur geologische Prozesse, wie sie auch in der Gegenwart zu beobachten sind, und rechneten mit viel längeren Zeiträumen. Drei Figuren stellt Bolles in seinem Buch besonders heraus: den schottischen Geologen Charles Lyell (1797-1875), einen der Begründer des Aktualismus, seinen Schweizer Kollegen Louis Agassiz (1807-1873) und den amerikanischen Polarforscher Elisha Kent Kane (1820-1857). Wer hat nur den Untertitel auf dem Gewissen, an dem fast nichts stimmt? Weder war Lyell ein Politiker, nur weil er Anhänger seiner Lehre um sich scharte, noch Kane ein Dichter, weil er einen Expeditionsbericht anschaulich abzufassen verstand. Und das Eis der Eiszeit war eben nicht ewig, sonst hätte man sich um die Spuren der Vergangenheit nicht so lange mühen müssen. Der erste Eindruck, der Schlimmes befürchten lässt, täuscht glücklicherweise – das Buch ist ordentlich recherchiert und differenziert geschrieben. Wie waren die "Findlinge", jene großen, eigentlich ortsfremden Felsblöcke, von ihren Ursprungsorten über viele Kilometer hinweg an die Fundstellen gelangt? Eine Sintflut heute unbekannten Ausmaßes, so glaubten Naturforscher seit Ende des 18. Jahrhunderts, musste sie dorthin verfrachtet haben. Doch Findlinge weisen keinerlei Anzeichen dafür auf, dass sie vom Wasser weit übers Land gerollt worden sind. Anfang der 1830er Jahre kam Lyell der Lösung etwas näher: Eisberge, die in einem urzeitlichen Meer schwammen, hätten die Findlinge herangetragen und beim Abschmelzen abgesetzt. Widerspruch kam bald darauf aus der Schweiz. Zwei Außenseiter, der Bauingenieur Ignatz Venetz und der Salzminen-Direktor Jean de Charpentier, waren bereits durch Studien an Moränen, also an Gesteinsschutt, den Gletscher vor sich hergeschoben oder seitlich angehäuft hatten, zu dem Schluss gekommen, dass das Eis einstmals viel weiter gereicht haben muss als in der Gegenwart. Der als Experte für fossile Fische geschätzte Agassiz nahm sich 1836 in Neuchâtel des Problems an. Er begründete die Gletscherforschung und sammelte zahlreiche neue Belege für eine immense Ausdehnung des Eises in früherer Zeit. 1837 zog Agassiz zusammen mit dem Münchener Botaniker Karl Schimper den Schluss, dass es in der Vergangenheit eine enorme Kälteperiode gegeben haben muss. Die Theorie stieß freilich auf einhellige Ablehnung. Lyell, der sonst so Fortschrittliche, sah in einer unversehens über die Erde gekommenen Eiszeit eine der Katastrophen, gegen die er sich sein Leben lang vehement gewandt hatte, und schwenkte erst 1857 um. Der Dritte in Bolles? Bund, Elisha Kent Kane, unternahm 1853 bis 1855 eine zweieinhalbjährige Schiffsexpedition nach Nordwestgrönland. Im Jahr darauf veröffentlichte er einen mit Stichen illustrierten Bericht, der den Geologen erstmals einen lebhaften Eindruck davon vermittelte, welche Eismassen die heute gemäßigte Zone damals bedeckt haben mussten. Bolles hat die Geschichte der Eiszeit-Entdeckung mit dem Verlauf von Kanes Expedition eng verflochten. Dadurch konfrontiert er den Leser auf der Spur des vergangenen Eises immer wieder mit real existierendem Eis. Da die Expedition ins Polareis jedoch zwei Jahrzehnte später stattfand als die Spurensuche in der Schweiz, ist die Verzahnung der unterschiedlichen Zeiträume etwas gewöhnungsbedürftig. Ein wirklich gravierender Mangel ist, dass der an Fakten und Namen reiche Bericht kein Register hat. Aber unbestreitbar ist dem Autor ein Text gelungen, dessen Lektüre auch Uneingeweihten die oft wie selbstverständlich erwähnte und doch schwer vorstellbare Eiszeit anschaulicher machen kann.
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