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»Entgrenzung«: Über den biologischen Tellerrand blickend

Eine interessante Darstellung des Philosophen Marco Tamborini über die Auflösung der Grenzen zwischen Biologie, Architektur und Technik.
Ein animierter Roboterhund

Die Grundidee, dass sich in der belebten Natur Strukturen und Prozesse entwickelten, die durch evolutionäre Prozesse über lange Zeiträume schrittweise optimiert wurden, führte schon früh zu der Überzeugung, dass der Mensch hiervon lernen kann. Die Bionik (auch als Biomimetik bezeichnet) hat also eine sehr lange Tradition. Der Philosoph Marco Tamborini illustriert eine interdisziplinäre Sicht auf Anwendungen und Lösungen in der Technik, die durch Erkenntnisse der Biologie und Lebenswissenschaften ermöglicht werden, wobei sich Biologie und Technik wechselseitig beeinflussen. Dabei konzentriert sich Tamborini auf die Zirkulation von morphologischem Wissen zwischen den drei Disziplinen Biologie, Philosophie und Architektur.

Im 15. Jahrhundert analysierte Leonardo da Vinci den Vogelflug, um seine Erkenntnisse auf die Konstruktion von Flugmaschinen zu übertragen, und im 20. Jahrhundert waren es unter anderem Gedanken zur Kybernetik, die die komplexen Interaktionen verschiedener Prozesse beschreiben. Die Grundideen zur technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme sind also alt. Seit den 1950er Jahren haben neue Methoden die Möglichkeiten deutlich erweitert; dazu tragen auch die Entwicklung der Kybernetik und die massiv erhöhte Rechenleistung moderner Computer und die verbesserten Produktionsprozesse bei. Technische Fragen im Produkt- und Materialdesign, der Architektur oder Robotik werden also seit langer Zeit auch im Zusammenhang mit biologischen Grundlagen gesehen.

Der Titel des Buchs – Entgrenzung – bezieht sich auf die Auflösung der Grenzen zwischen Biologie und Technik. Der Autor nennt dies treffend die Biologisierung der Technik und die Technisierung der Biologie. Dabei geht es auch um die Zirkulation des Wissens zwischen Biologie, Architektur und Ingenieurwissenschaften. Als Wissenschaftsdisziplin sucht die Bionik gezielt nach Strukturen in der Natur, die als Vorbilder dienen und auf technische Probleme übertragen werden können. Eine solche Verwendung interdisziplinären Wissens ist jedoch keine Einbahnstraße, denn die verschiedenen Forschungsgebiete beeinflussen sich gegenseitig.

Neben einer historischen Darstellung des Ansatzes, von biologischen Organismen Lösungen für Konstruktionsprobleme zu übernehmen, spannt Marco Tamborini einen weiten Bogen von der Architektur, die sich in Form und Design von der organischen Morphologie inspirieren lässt, bis zu den Forschungen zur Biomechanik, die beispielsweise Bewegungsmuster von Tieren kopiert, um diese in Robotern umzusetzen.

Dies alles ist nachvollziehbar und interessant dargestellt, allerdings gewinnt man den Eindruck, dass dies nicht wirklich neu ist. Ergebnisse der Bionik haben seit langer Zeit geholfen, Erkenntnisse aus der Biologie in die Technik zu übertragen.

Die Fragen, was Natur und was Technik sei oder worin der Unterschied zwischen Lebendigem und Maschinen bestünde, klingen interessant. Inwieweit jedoch die geschilderte interdisziplinäre Forschung in den Ingenieurwissenschaften, der Architektur oder der Biologie tatsächlich philosophische Fragen aufwirft, bleibt fraglich, geht es doch bei diesem eher empirischen Forschungsgebiet meistens um den Anwendungsaspekt und technische Lösungen.

Dies schmälert jedoch den Wert dieses Werks, das eine Fülle von oft kurz angerissenen Beispielen enthält, nur wenig. Marco Tamborini zeigt, dass Natur und Technik keine Gegensätze sind, sondern sich wechselseitig beeinflussen und ergänzen können. Das umfangreiche Literaturverzeichnis erlaubt, sich gezielt mit spezifischeren Fragen und Themen zu beschäftigen und Originalbefunde nachzulesen.

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