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Kulturwissenschaft: Zu Kopf gestiegene Heldengeschichten

Samira El Ouassil und Friedemann Karig beschreiben, wie wichtig Geschichten für die menschliche Identität und das Zusammenleben sind. Dabei schießen sie jedoch über das Ziel hinaus.

In einem Interview mit »Krautreportern« des gleichnamigen Online-Magazins sagte die Publizistin Carolin Emcke im März 2022: »In allen Gegenden, in die ich gereist bin, war mein Eindruck, dass Menschen erzählen wollten. Und dass sie auch wollten, dass jemand notiert, was sie erzählen.« Am selben Tag las man von einem der besten Russland-Kenner, Stephen Kotkin, im »New Yorker«: »(The Russians) have stories to tell. And, as you know, stories are always more powerful than secret police … Stories about Russian greatness, about the revival of Russian greatness …«

Erzählen ist universal, Menschen lieben Geschichten, erzählen über sich und andere und bilden somit die eigene Identität, auch die ihrer Gemeinschaft. Diese Wahrheit klingt in dem Buch von Samira El Ouassil und Friedemann Karig an; sie gerät aber irgendwann völlig in den Hintergrund, weil sie zu basal anthropologisch und psychologisch-menschlich scheint. Stattdessen schieben die Autorin und der Autor das Ideologische im Lauf des Buchs immer weiter in den Vordergrund.

Von Illias und Odyssee bis zu Herr der Ringe und Harry Potter

Dabei ist der Spannungsbogen anfangs gut gewählt. Ausgehend von der Grundthese, dass ein Großteil unserer »kognitiven Kapazitäten genau damit beschäftigt (ist): eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen« und Geschichten »Atemzüge des Geistes« seien, baut das Autorenteam das Buch anhand zwölf typischer Elemente einer Abenteuer- und Heldenreise auf: Aus der gewohnten Welt bricht der Held – oft unfreiwillig – aus, besteht dann von einem Mentor instruiert Bewährungsproben, um nach erfolgten Abenteuern siegreich und häufig geläutert nach Hause zurückzukehren. So funktionieren Geschichten wie die »Illias« und die »Odyssee« bis hin zu den modernen Sagen wie »Harry Potter« oder »Der Held der Ringe«.

Die beiden Geisteswissenschaftler El Ouassil und Karig zeigen, dass sie ihr Handwerk gut beherrschen. Sie erläutern in den ersten zwei Dritteln des Buchs moderne Literaturtheorien, differenzieren sauber zwischen Geschichte, Erzählung und Narrativ – eine Unterscheidung, die sie aber leider nicht durchhalten. Später dominiert das Modewort Narrativ. Die Autoren machen ihre Vorliebe für Heldengeschichten nicht nur an literarischen Beispielen deutlich, sondern multimedial in einer Fülle von Hinweisen auf gegenwärtige Filme und TV-Serien. Das Buch ist gut geschrieben, sogar flott erzählt, und es ist leicht lesbar, unter anderem weil es mediale Rezeptionshorizonte anspricht.

Vielleicht ist das aber auch die Krux: Das Werk mäandert einfach locker von Film zu Film, von Serie zu Serie, von Buch zu Buch, von einer politischen Geschichte zur anderen. Es hinterlässt den Eindruck, eine gute Kompilation von allem Möglichen zu sein, doch das flotte Erzählen leistet keinen Widerstand: Man liest leicht über vieles hinweg und gewinnt den Eindruck, dass das Buch an unendlich vielen Oberflächen kratzt, aber nirgendwo wirklich in die Tiefe geht.

Ärgerlich ist zudem, wie häufig sich die Autoren sprachlich austoben. Da geraten Formulierungen leicht auf die schiefe Bahn, etwa wenn sie, die griechische Antike ins Visier nehmend, von »unbeugsamen Spartanern« schreiben, »die Griechenland und die europäische Zivilisation« gegen »die muselmanischen Barbaren verteidigten«. Sie ignorieren, dass Barbaren für Griechen alle waren, die nicht oder nur sehr unvollkommen Griechisch sprachen, zudem betraten »Muselmanen« erst gut 1000 Jahre später die Weltbühne. Bei solchen – wie etlichen weiteren – peinlich-alltagssprachlichen Formulierungen hat man den Eindruck, dass den Autoren mit der »flotten Schreibe« die Heldenreise zu Kopf und über ihn hinaus gestiegen ist.

Das Autorenteam verlässt dann in den drei letzten Kapiteln des Buchs vollends den Plot. Hat man bis dahin noch den Eindruck eines gut geschriebenen Sachbuchs, bestehen die Schlusskapitel aus naiv-visionärer Ideologie: »Unsere These war und ist, dass Narrative, verpackt in mächtige Kulturprodukte, politische Programme oder platte Popsongs, heute die größte transformative Kraft besitzen.« Als ob man die Welt einfach dadurch retten könnte, indem man die Geschichten anders erzählt. Putin zeigt aktuell allzu deutlich, dass diese naive Version selbst im Milieu der Autoren zu Bruch geht.

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