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Die Maschine denkt nicht

Rudolf Seising betrachtet künstliche Intelligenz aus technikgeschichtlicher Sicht.

Im Jahr 1833 spannte der Physiker Wilhelm Weber über den Dächern der Göttinger Innenstadt einen gut 1000 Meter langen Doppelbindfaden, der vom Gebäude des Physikalischen Kabinetts über den Kirchturm der Johanniskirche bis zur Neuen Sternwarte reichte, wo damals der Mathematiker Carl Friedrich Gauß arbeitete. An dem Bindfaden hing ein dünner Silberdraht, der Strom leitete. Immer, wenn Weber im Physikalischen Institut bei sich den Strom einschaltete, bewegte sich bei Gauß ein Magnet nach links oder rechts. Die beiden befreundeten Wissenschaftler vereinbarten einen Code: Der Buchstabe A wurde als Linksausschlag definiert, B als Rechtsausschlag, zwei Linksausschläge standen für das C und so weiter. So konnten die beiden Forscher im 19. Jahrhundert über eine Drahtverbindung kommunizieren.

Die Geschichte der KI

»Elektromagnetisch zu telegrafieren«, schreibt der Physiker Rudolf Seising in seinem Buch »Es denkt nicht!«, »war ein ›Spaßfaktor‹ ihrer Forschungsarbeiten«. Eine Art analoges Twitter. Die Telegrafie wurde später weiterentwickelt, unter anderem von Robert Hooke und Samuel Morse. Die beiden Tüftler unterschieden nicht zwischen Nachrichten und Information. Damals sprach man davon, »intelligence« zu übertragen. Auch der Elektroingenieur Edwin James Houston stellte sich Strom als »Übertragung von Intelligenz zwischen zwei Punkten« vor.

Erst sehr viel später wandelte sich das Verständnis von Kommunikation. Als der Radioingenieur Ralph Vinton Lyon Hartley, Leiter einer Forschungsgruppe der Bell Telephone Laboratories, im September 1927 auf einem Kongress am Comer See seine Telegraphentheorie vorstellte, sprach er nicht mehr von übertragener Intelligenz, sondern von Information. Aus heutiger Sicht, in einer Zeit, wo künstliche Intelligenzen Informationen verarbeiten, ist das ein bemerkenswerter semantischer Wandel. Was sind eigentlich Informationen? Was bedeutet Intelligenz? Ist unsere Geistesarbeit nur Informationsverarbeitung?

Das sind die zentralen Fragen, denen sich Seising in seinem Buch widmet. Ausgehend von der elektromagnetischen Telegraphie führt er die Leser in einer technikgeschichtlichen Tour d'horizon durch die mathematische Kommunikationstheorie und Anfänge der Kybernetik bis hin zur legendären Dartmouth Conference, an der Größen wie Marvin Minsky, Allen Newell, Herbert A. Simon und Claude Shannon teilnahmen und der Begriff der »künstlichen Intelligenz« geboren wurde. Der Begriff fiel auf der Konferenz selbst nicht, sondern tauchte im Titel eines Forschungsantrags auf: »A Proposal for the Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence«.

Der Terminus »intelligence«, schreibt Seising, sei unter den Organisatoren des Workshops nicht unumstritten gewesen. So hätten Newell und Simon lieber von »komplexer Informationsverarbeitung« gesprochen, andere bevorzugten den Begriff Kybernetik oder »Automatenstudien«. Schließlich sollte sich der Vorschlag »Artificial Intelligence« durchsetzen. Die Autoren schreiben in ihrem Antrag, dass es ihnen nicht um eine künstliche Schöpfung von Intelligenz gehe, sondern darum, »eine Maschine dazu zu bringen, sich in einer Weise zu verhalten, die man intelligent nennen würde, wenn sich ein Mensch so verhielte«.

Seising, der neben Physik und Mathematik auch Philosophie studiert hat, kritisiert, dass die geisteswissenschaftliche Disziplin in den frühen Forschungsjahren der »künstlichen Intelligenz« vernachlässigt wurde: »Anstatt zu versuchen, Kognition zu verstehen, den mentalen Prozessen nachzuspüren, den menschlichen Geist zu ergründen, wurden die Computer(prozess)metaphern von Gehirn und Geist so mächtig, dass man nicht nur das Gehirn, sondern auch den Geist mittels Computermodellen beziehungsweise -prozessen zu erklären und zu verstehen versuchte.« Weil die Beziehungen des Geists auf Input und Output eingeschränkt blieben, blieb der menschliche Geist daher auch für Kognitionspsychologen eine Black Box, so Seising. Aber sind KI-Systeme nun intelligent oder nicht? Der Autor legt sich fest: »So genannte AI- oder KI-Systeme sind nicht intelligent, es scheint nur so, und dies, weil wir Menschen sie zu diesem Schein geschaffen haben.«

Dass KI-Systemen Intelligenz zugeschrieben werde, liege an der Intelligenz von Menschen. Rudolf Seising hat ein sehr kluges Buch über künstliche Intelligenz geschrieben, das vor allem ihre Genese und wissenschaftstheoretischen Grundannahmen beleuchtet.

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