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Buchkritik zu »Expeditionen ins Reich der Seuchen.«

Welch' sonderbares Buch! Man fühlt sich, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, in die Hurra-Kaiserzeit zurückversetzt, zweimal "60 Jahre danach". "Unsere" Kolonien haben uns seinerzeit – unter anderem – im Konkurrenz-gesteigerten und durch den verlorenen Ersten Weltkrieg umso berechtigter erscheinenden Verruf der moralverstümmelnden Menschenrechtsverletzung gebracht. Das gegenseitige Anstinken gegen den Dreck am eigenen Stecken hatte und hat Methode. Die Geißelung der unzeitgemäßen Ambitionen und der rückwärtsgewandten Methoden der (zu) spät-imperialistischen "Pazifikation" überblendeten hässlich das allgemein-Menschenwürdige der Häuslichmachung auf Erden, nämlich die Nutzbarmachung zeitgemäßer Denkweisen für die rationale Urbarmachung offener Ressourcen und die zivilisatorischen Verhältnisse in äquatorialen Gegenden, die von damals noch unbekannten Krankheiten durchseucht waren, für die Diagnose-, Therapie- und Vorbeugungsverfahren erst noch entwickelt werden mussten. Die deutsche Medizin hat daran einen großen rühmlichen Anteil, der sich vor allem um den wirklich eminenten Robert Koch, aber auch seine von ihm angespornte Schule mit ihren in vielen Richtungen seiner Vorgaben arbeitenden Schüler rankt.

Hier ist eine Erzählgeschichte der medizinischen Himmelfahrtskommandos der deutschen Kaiser- und Kolonialzeit, die aus Dokumenten und eigener Forschungserfahrung des TV-bekannten Düsseldorfer Protozoologen Heinz. Mehlhorn und seines tropenmedizinisch versierten Ophthalmologenkollegen Johannes W. Grüntzig auf den Gebieten der Tropen-Parasitologie und -Mikrobiologie unter deutlicher Mitwirkung des meritierten und emeritierten Düsseldorfer Medizinhistorikers und Flottenarztes D. R. H. Schadewaldt allgemein-interessierend zusammengestellt ist. Leider sind die Autoren dem Stil ihrer Vorlagen zu oft erlegen, nennen zum Beispiel eingeborene Frauen immer "Weiber", freuen sich am Kolonialjägerlatein der Pioniere und lassen die schwarz-weiß-rote Marinefahne mit der Gösch voranflattern, was Allergisierte stört.

Aber sie missbilligen es deutlich, wenn die Herren Reservemediziner statt der Pravazspritze den Degen zücken und den Eid auf das Kalbfell höher halten als den auf Hippokrates. Paul de Kruifs sind sie nicht, der so viele zur Mikrobenjägerei begeistert hat, wenn auch dessen Stil heute so schwer erträglich wäre wie eine Filmheroisierung. Nur damit aber können Taten und Leiden in Laienhirn-Dimensionen geprägt werden. Dass dabei allerdings die differentialdiagnostischen Gedankengänge origineller Forschung und kombinierender Erinnerung weitgehend auf der Strecke bleiben und durch sichtbarmachende Chiffren ersetzt werden, muss man in Kauf nehmen.

Von diesem Ungutgefühl des submentalen "Hurra" und "Heureka" abgesehen, ist es eine sehr spannende und auf eingehende Weise informierende Darstellung des Beitrags, den – hier vor allem natürlich deutsche – Medizin zur Epidemiologie, Ursachenforschung und Behandlung von Pest und Cholera, Malaria und anderen Protozoonosen, aber auch (damals nur empirisch verständlichen) Virus- und Prionenkrankheiten geleistet hat. Das Belehrende und Anregende, auch Gutmenschen-im-Lehnstuhl-Schauderhafte aus Bösmenschenland dabei ist der Originalton aus den Berichten und Auftritten der größeren und kleineren medizinischen Protagonisten an Mikroskop und Bett, in Zelt und Lazarett bei der Feldarbeit zur Erkundung des Bedrohlichen, im Vorzimmer und Büro ziviler und militärischer Amtsträger, am Rednerpult und Konferenztisch bei der Kärrnerarbeit daheim zur Finanzierung der emotionsgetragenen Weltgeltung.

Auch hier war Robert Koch aus dem unscheinbaren Clausthal und noch unscheinbareren Wollstein Genie, wenn auch zunächst in bäurischen Stiefeln, dann doch gewandt auf dem politischen und wissenschaftlichen Parkett, weil sich schließlich doch keine junkerliche Arroganz gegen enthusiastische, wenn auch nicht sentimentale Menschenliebe halten kann. Dass dabei auch die eigene Liebe eigene Wege geht, verzeiht man heute nicht nur solchen Großen. Manche Forschungsreise wurde durch derartige Emotionen gespeist, darunter auch die der begleitenden Noldes in die durch Gauguin erschlossene Südsee-Farbigkeit.

Bei allem bleibt natürlich der wissenschaftliche und zukunftsweisende Ertrag dieser auf Drang, Mut und Umsicht gestellten Forschungsreisen in eine zu verbessernde, gesündere und zivilisiertere Welt obenan. Sie haben Leben gefordert und gegeben. Davon lenken die Anekdoten nicht ab, und die schöne, reichlich mit Originalphotos und Buntbildern illustrierte Darstellung durch die telegewieften Verfasser weist erst recht darauf hin. Für ein so schönes und informatives Geschenkbuch ist auch der Preis angemessen.

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  • Quellen
BioSpektrum 4/2005

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